Schwarzer Humor Der radikale Poet, Surrealist, Schauspieler, Regisseur und Zeichner Antonin Artaud wird im Museum, im Kino und auf der Bühne neu beleuchtet. Von Karin Cerny Schweiß steht dem Mann nicht nur auf der Stirn. Fiebrig quellen seine Augen hervor, panisch starren sie ins Leere, und seine Stimme schraubt sich hoch, bis sie nur mehr schreit. Die Welt ist aus den Fugen, sogar die Kamera schwankt, verliert den festen Boden unter den Füßen: Der gerade 34-jährige Antonin Artaud spielt in Abel Gance' "La fin du monde" (1931), einem frühen französischen Tonfilm, in einer extremen, schreckenerregenden Performance die Wirkungen der Apokalypse. Die Zerstörung beginnt nicht außerhalb, der Krieg tobt im eigenen Fleisch. Artaud ist jenes "Theater der Grausamkeit", das er in seinen Theorien so vehement eingefordert hat. Mythos Die Faszination an radikaler Körperlichkeit, die sich wie ein roter Faden durch das Werk des französischen Universalkünstlers Antonin Artaud (1896- 1948) zieht, ist bis heute nicht erloschen. Geht es ums Ganze in der Kunst, ist Artaud schnell zur Hand, wobei dessen ebenso exzentrisches wie schmerzvolles Leben als Garant für die Authentizität seines Werks gilt. Gerade diese Identifikation von Werk und Person ("Ich schreibe nur, was ich körperlich Maß für Maß und Punkt für Punkt in meinem ganzen Körper erlitten habe") macht den unverstellten Blick auf seine Schriften aber bis heute schwierig. Artaud - Poet, Surrealist, Schauspieler, Theatervisionär, Zeichner - ist zum Mythos geworden. "Mir ging es darum", sagt Cathrin Pichler, die mit Hans Peter Litscher soeben die Sonderausstellung "Hommage à Antonin Artaud" im Wiener Museum moderner Kunst kuratiert hat, "zu sehen, wer dieser Artaud wirklich war, der im Zitat ständig irgendwo auftaucht. Wir machen Artaud nicht wie in den siebziger Jahren zu einem Helden der Anti-Kunst oder einem Märtyrer der Psychiatrie, sondern konzentrieren uns vordringlich auf das Werk. Schließlich hat Artaud alle elementaren Themen des 20. Jahrhunderts behandelt: Religion, Sexualität, Sprache, Repräsentation, eigene und fremde Kulturen." Artauds Werk zeugt von unermüdlicher Produktivität, und das trotz enormer körperlicher Beschwerden, die ihn seit frühester Kindheit begleiten. Von seinen Schriften - vor allem Briefe, Abhandlungen und Gedichte - sind bisher 33 Bände erschienen, aber längst ist noch nicht der ganze Nachlass erschlossen. In über dreißig Filmen ist er aufgetreten, von Gance' "Napoleon" (1927) bis zu Carl Theodor Dreyers "La passion de Jeanne d'Arc" (1928). Artauds Biografie ist von seiner Krankengeschichte kaum zu trennen: Bereits mit fünf erkrankt er an einer Meningitis und leidet in der Folge unter Angstzuständen, Kopfschmerzen und Bewusstseinsstörungen, die er mit (damals legalen) Drogen wie Laudanum und Opium bekämpft. Immer wieder muss er in stationäre Behandlung, von 1939 bis 1946 ist er in der psychiatrischen Anstalt von Rodez (Diagnose: "chronische halluzinöse Psychose mit wuchernden polymorphen Wahnvorstellungen") und wird mit den damals als fortschrittlich geltenden, von ihm als "entfremdend" empfundenen Elektroschocks behandelt. In der Wiener Ausstellung werden erstmals auch einige der berühmten "cahiers" von Artaud zu sehen sein: Über 400 dieser Notitzhefte hat er in Rodez geschrieben. Seine letzten beiden Lebensjahre verbringt er auf Betreiben seiner Freunde, die ihn finanziell unterstützen, in einer offenen Privatklinik in der Nähe von Paris, wo er auch seinen bahnbrechenden Essay "Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft" schreibt. 1948 stirbt er an Darmkrebs. Traditionsbruch Zehn Jahre davor, 1938, erscheint in einer kleinen Auflage von nur 400 Stück Artauds berühmte Textsammlung "Das Theater und sein Double". Darin bricht Artaud mit einer abendländischen Theatertradition, die das geschriebene Wort so sehr ins Zentrum rückt, dass sie den Körper zu vergessen droht. Artaud imaginiert ein vitales und magisches Theater, das "sich aller Sprachen bedient: Gesten, Töne, Worte, Leidenschaften, Schreie", um "die Grenzen dessen, was man Realität nennt, bis ins Unendliche zu erweitern". Artauds viel zitiertes Wort vom "Theater der Grausamkeit" erklärt er in einem Brief als "Grausamkeit im Sinne von Lebensgier". Der Traum von einem Theater, das - wie ein Popkonzert - direkt in die Nervenbahnen des Betrachters fährt: "Der Zuschauer, der zu uns kommt, wird wissen, dass er sich einer wirklichen Operation ausliefert, bei der nicht allein sein Geist, sondern seine Sinne und sein Fleisch auf dem Spiel stehen. Von da an wird er ins Theater wie zu einem Chirurgen oder Zahnarzt gehen." Wahn Doch selbst Artaud ist an der Praxis gescheitert: Nach dem Misserfolg der 1935 uraufgeführten blutrünstigen, aber doch konventionellen Tragödie "Les Cenci" bricht er nach Mexiko auf ("Die rationalistische Kultur Europas hat Pleite gemacht"), um die Riten des Indianerstammes der Tarahumaras zu studieren. Er macht einen Drogenentzug, bereist Irland, verfällt einem religiösen Wahn ("Jesus Christus ist es, der mir alles befiehlt"). Es steht zu vermuten, dass, gerade weil sie nur bedingt umsetzbar sind, Artauds Theatervisionen bis heute eine Herausforderung geblieben sind: In den siebziger Jahren beginnt - mit den Theatergurus Jerzy Grotowski und Peter Brook - die künstlerische Wiederaufnahme der Ideen Artauds, die von New Yorks La Mama bis zu den katalanischen La Fura dels Baus definitiv am Leben sind. In dem parallel zur Ausstellung bei Matthes & Seitz erscheinenden Band "Über Antonin Artaud" spricht Cathrin Pichler mit dem italienischen Theatermacher Romeo Castellucci. Dessen "Amleto" (1992) war eine anarchische Autismusstudie, in "Giulio Cesare" (1997) treten Kehlkopfoperierte und zwei lebensbedrohlich dünne Magersüchtige auf. Die Gastspiele von Castelluccis extremem Körpertheater waren Höhepunkte der diesjährigen Wiener Festwochen. Castellucci sagt: "Wer sich mit Artaud auseinander setzt, um seine Theatertheorien anzuwenden, wird sicher scheitern, und zwar, weil Artaud niemals ein Autor war. Artaud ist eine Sichtweise, eine Landschaft, von der man entdeckt, dass man sich darin befindet." Im weiten Land Artaud fand auch der im Vorjahr verstorbene Regisseur Einar Schleef seinen Platz, der ebenso existenziell um das Körperlichwerden der Worte gerungen und ein archaisches, chorisches Theater gefordert hat. Und ist nicht auch der Aktionist Christoph Schlingensief ein Erbe Artauds, indem er dem Theater mit Aktionen, in denen die Grenzen zwischen Medienbildern, Kunst und Wirklichkeit verwischt werden, den sicheren Boden der Repräsentation konsequent entzieht? Wie man zu erstaunlichen Erfolgen kommt, wenn man Artaud nicht existenzialistisch, sondern augenzwinkernd nimmt, hat der Choreograf Joachim Schlömer mit dem frühen Artaud-Stück "Die Nervenwaage", das nun im Kasino am Schwarzenbergplatz wiederaufgenommen wird, bereits bewiesen: In schäbiger Sportstudio-Kulisse exerziert und turnt ein siebenköpfiges Ensemble Artauds unberechenbare Fantasien sehr sportlich nach. Dass Antonin Artaud, der von den Filmen der Marx-Brothers geschwärmt hat, erstaunlich witzig sein konnte - freilich auf seine Art -, davon zeugt die Begegnung mit einem Journalisten, der ihn bittet, den Begriff des schwarzen Humors zu definieren. Artaud lässt den Interviewer lange warten, nimmt ein großes Messer, setzt es am eigenen Kopf an und drückt für einige Minuten zu. "Sie haben mich, Monsieur, nach meiner Definition des schwarzen Humors gefragt, nun, das war schwarzer Humor!"