Eröffnungsrede Maren Lübbke: Zu den Arbeiten von Santos R. Vásquez. 2000 Direkt im Eingang zur Ausstellung hat Vasquez eine Arbeit plaziert, die Sie möglicherweise schon zu kennen glauben: Auch in der von Martin Prinzhorn im vergangenen Jahr hier kuratieren Show - Los Angelos Special - hat Vasquez eine Fotografie eines Plattencovers des Labels Blue Note gezeigt. Es scheint sich um die exakt die gleiche Platte - Blue Train von John Coltrane - zu handeln. Beim genauen Hinschauen werden Sie jedoch erkennen, daß es sich hier um die japanische Variante des Covers einer CD handelt, und nicht um die amerikanische Langspielplatten-Version, die im letzten Jahr zu sehen war. Sie erkennen, daß die fotografierte CD in Zellophan verschweißt ist, während sich auf dem Cover der Langspielplatte die Spuren der runden Scheibe abzuzeichnen begannen. Die zwei identischen Cover (sie bilden das gleiche Sujet ab) transportieren jedoch verschiedene Bedeutungen - aus dem einfachen Grund, weil sich voneinander zu unterscheidende Geschichten mit ihnen verbinden: Mit dem Cover der Langspielplatte glauben wir uns einem Stück Musikgeschichte näher - diese Haptik vermag eine heute weltweit und millionenfach vertriebene CD auch mit der Adaptierung des Sujets der Originalversion nicht mehr zu transportieren. Mit der Entscheidung, in dieser Ausstellung diese zweite Version von "Blue Train" zu zeigen, baut Vaquez nicht nur ein Referenzsystem seiner eigenen Ausstellungsvita auf, er führt damit auch gleich in sein Untersuchungsfeld ein. Dieses ist einerseits von der Frage geleitet, wie Bedeutung konstruiert wird, wie sich Bedeutungen in verschiedenen Kontexten verschieben, andererseits wie sich Mythen bilden. Die Analyse von bereits bestehenden Bildsprachen verschränkt sich wiederum mit dem Wunsch, auch eigene Bedeutungsebenen mit dem Bild zu erzeugen. In diesem Raum sehen Sie die Arbeit "Some for Tony", eine Arbeit, in der es um den Schlagzeuger Anthony Williams geht, der - wie ich dem Pressetext entnehmen konnte - "Mozart der Schlagzeuger, an den sich wenige erinnern, mit Ausnahme von Kollegen und Jazzliebhabern." Vasquez fotografierte auch hier ein Plattencover des Musikers, es scheint zunächst, als sei Vasquez ausschließlich an der Dokumentation desselben interessiert. Daß die pure Dokumentation eines Fakts aber vor allem Raum für eigene Fiktionen öffnet, zeigt Vasquez, indem er dieses Plattencover in ein monumentales fotografisches Gemälde verwandelt. Dem kommerziellen Design können wir plötzlich minimale Qualitäten zusprechen - der Ausstellungskontext, in dem Vasquez die Arbeit zeigt, unterstreicht diese Möglichkeit der Interpretation - , vor uns tut sich ein weiter Landschaftsraum auf. Interessant erscheint mir hier, daß Vasquez mit dem (einfachen) Mittel der Dokumentation ein vielschichtiges Bild mit unterschiedlichen Bedeutungsebenen erzeugt, sich aber gleichermaßen als Künstler aus dem Bild zurückzieht und statt dessen den Kontext sprechen läßt. Das diese Methode konstitutiv für seine Arbeit sein muß, wird im Zusammenspiel mit zwei weiteren Fotografien deutlich, die einen Ausschnitt aus der Rückseite des Covers wiedergeben. Hier sehen wir die Hände des Musikers Williams und sein Werkzeug - einen Drumstick (Schlagstock?). Vasquez konfrontiert uns hier mit unserer romantischen Vorstellung des Künstlers als Erschaffer von Werken. Er dokumentiert mit diesen Fotografien auch, wie sich Mythen herausbilden, ganz im Sinne Roland Barthes Idee vom Mythos als "Form gewordener Sinn". Die Arbeit "Claude Levi-Strauss" zeigt eine Serie von Fotografien, die Cover, den sog. Schmutztitel und das Inhaltsverzeichnis eines Buches über den französischen Ethnologen und Sprachforscher Claude Levi Strauss - berühmt geworden mit seinem Buch 1949 erschienenen Buch "Die Strukturen der Verwandtschaft" - zeigen. Daß Bilder immer und automatisch Übersetzungsarbeit begleiten, und daß in dieser Übersetzungsarbeit oder in diesem Transformationsprozeß immer auch ein Stück der ursprünglichen Idee verloren gehen mag oder Umdeutungen erfährt, zeigt Vasquez mit dieser Arbeit. Allein mit der Gestaltung des Covers des Buches von Octavio Paz, den Sie als Theoretiker und Poeten, möglicherweise auch als Duchamp-Experten kennen, wird Raum für Projektionen des Betrachters oder Lesers eröffnet, die poetischen Titel der einzelnen Kapitel, in denen in die Arbeit von Levi-Strauss eingeführt werden soll, eröffnen einen weiteren weiten Spielraum an möglichen Erwartungen, die entscheidend sind, um sich zu der Lektüre des Buches zu entschließen. Vasquez entzieht den BetrachterInnen jedoch das Buch selbst und verweist - mit einem Bild - auf eine gängige Konversationspraxis, in der Gespräche auf zweiter Ordnung, das heißt in Referenz auf einen allgemeinen Konsens über bestimmtes Wissen, geführt werden, ohne das die Perspektive, von der aus man spricht, überhaupt geklärt wäre. Im Prinzip wiederholt Vasquez mit dieser Arbeit eine der Grundideen des Strukturalismus - als dessen Begründer Levi-Strauss heute gilt -, wo Sprache als Code aufgefaßt wird, als ein nach bestimmten Regeln kombinierbares Zeichensystem mit kommunikativer Funktion. Wie groß das Feld der Bedeutungskonstitution ist - und das man über die Bedeutungen eines einzelnen Gegenstandes streiten kann -, zeigt Vasquez, indem er Kopien des Covers eines Buches des französischen Strukturalisten fotografierte, auf denen der Kopf des Philosophen in unterschiedlichen "Schattierungen" erscheint. Die Signatur des Buches in der linken oberen Ecke zeigt uns, das Vasquez das Buch einer Bibliothek entlehnt hat, Ort der Recherche und Wissenproduktion. Vasquez erzählte mir, daß das erste Foto, das er jemals von Levi-Strauss gesehen hat, Strauss als Dreißigjährigen mit Vollbart und Pfeife und mit einem kleinen Affen auf der Schulter gezeigt hat. Der autoritäte Gestus, mit dem Levis-Strauss uns nun auf diesen Fotografien anblickt, hat nichts mehr mit einem möglicherweise unbedarften Zugang an seine Theorie zu tun, sondern setzt per se die Ernsthafigkeit der Annäherung voraus. Auch hier geht es darum zu zeigen, wie sich Mythen herausbilden bzw. daß die bildliche Darstellung eine wichtige erzählerische Funktion - vergleichbar mit der eines Textes - in der Konstruktion von Mythen einnimmt. Daß an der puren Dokumentation die eigene Projektionsarbeit das eigentlich spannende ist, zeigt Vasquez auch mit der letzten Arbeit, über die ich hier kurz sprechen möchte. "Capitol never sleeps" zeigt Bilder eines Viertels in Los Angelos, den Citrus District. Der Citrus District ist Umschlagplatz für Gemüsegroßhändler, die in der Nacht LKWs mit Früchten und Gemüse beladen, um die Versorgung in der Stadt rund um die Uhr zu sichern. Vasquez hat diesen Ort, dessen Architektur sich in den letzen Jahrzehnten offenbar überhaupt nicht verändert hat, bei Tag fotografiert, zu einer Zeit, zu der hier alles stehen bleiben zu scheint. Mit dieser vermeintlichen Leere verbindet sich die Auforderung an den Betrachter, das soziale Leben, das sich in diesem Viertel abspielt, zu imaginieren, Projektionsarbeit zu leisten, die möglicherweise auch wegführt von diesem konkreten Ort, von dem aus ein Teil der Versorgung in der Stadt geregelt wird. Diese Serie von Fotografien erinnert mit ihrem dokumentarischen Charakter, aber auch in ihrer Ästhetik wohl am stärksten an eine Form von konzeptueller Fotografie. Ich denke jedoch, daß sich die Methoden einer jüngeren Generation von zeitgenössischen Künstlern und KünstlerInnen in den letzten Jahren stark verändert haben, und daß man einmal daran arbeiten könnte oder sollte - und damit richte ich mich an jene, die wie ich von Zeit zu Zeit versuchen, sich auf der Text-Ebene Bildern zu nähern - ein neues Vokabular zu entwickeln, das diesen neuen Formen von konzeptuellen Arbeitsweisen auch gerecht wird - um die Komplexität dieser Arbeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Das vielschichtige Verweisungssystem, das konstitutiv für Vasquez` Arbeiten ist, habe auch ich hier nur in aller gebotenen Kürze angerissen, denn das Stichwort Komplexität muss mich nun zum zweiten Teil meiner Rede führen.