THOMAS WULFFEN Zeitlos Hamburger Bahnhof, Berlin bis 25.9.88 Es fängt beim Titel an, und es hört nicht in der realen Ausstellung auf: Der Mißverständnisse sind viele und eines dieser Mißverständnisse ist es, daß Anspruch und Name Garantie für eine gelungene Kunstausstellung sind. Am Ende stellt sich heraus: Es gibt einen Tourismus der Kunst, und Harald Szeemann ist einer ihrer Veranstalter. "Aber eine Skulptur hat ein Mysterium mehr durch ihre Präsenz im Raum." (H. S. im Interview, Kunstforum Bd. 94) Vordergründig ging es bei 'Zeitlos' um eine Ausstellung, die 'die skulpturale Revolution unseres Jahrhunderts' (Pressetext Zeitlos) abbilden soll. Gemeint ist jener entscheidende Schritt weg vom Sockel, der 'der Plastik neue Dimensionen der Raumeinwirkung vom Boden aus' (PR-Text Zeitlos) erschloß. Ort dieser Darstellung ist der Hamburger Bahnhof, der erstmals 'als großartige Hülle im Ist-Zustand ohne Veränderungen und Einbauten' (PR-Text) genutzt wird. Verantwortlich zeichnet Harald Szeemann, 'der darauf brennt, diese Raumbatterie Hamburger Bahnhof mit den Künstlern, ihren Werken und mit seinem Medium, der Ausstellung, aufzuladen' (PR-Text Zeitlos). Die Aufladung der Batterie hat ca. 2 Millionen DM gekostet, aber der Strom, der fließt, ist schwach. Es ist von einem Debakel zu reden, an dem nicht allein Harald Szeemann die Schuld trägt. Jede größere Kommune, besonders wenn sie sich mit der Auszeichnung 'Kulturstadt Europas' schmücken kann, muß ein aufwendiges Ausstellungsprojekt beherbergen. Die Inhalte sind gegenüber den Institutionen und den Namen zweitrangig. Harald Szeemann ist spätestens seit dem Ausstellungsreigen 'Der Hang zum Gesamtkunstwerk' den meisten Kulturministern und -Senatoren ein Begriff. Ein solcher Ruf verselbständigt sich soweit, daß die Inhalte selber zum Mysterium werden. Aber die Interdependenz zwischen gegebenem Raum und vorgegebenem Inhalt ist bei 'Zeitlos' gedanklich und im Raum selber nicht gemeistert worden. Die Unfähigkeit, die zutage tritt, betrifft ebenso den Veranstalter als auch die Künstler. Solange sie mit einer Teilnahme an dem Projekt ihren Marktwert sichern können, werden ihnen angesichts des Gesamtkomplexes der verschiedenen Arbeiten kaum Skrupel kommen. Es ist nicht die Zeit, sich von solchen Projekten zurückzuziehen. - Auf dem Dach des Hamburger Bahnhofs wehen zwei Flaggen von James Lee Byars. Den sogenannten 'New World Flags' wurden nach ein paar Wochen die Fransen abgeschnitten. James Lee Byars zeigt in den Haupthallen des Hamburger Bahnhofs ein Quadrat aus Gold mit dem Titel "The perfect performance is to stand still'. "Aber ich muß sagen, daß, wenn man einmalig diesen Raum hat, denn er wird sicher nie wieder so pur genutzt, dann nur mit den Künstlern, die in solchen Räumen eine Herausforderung spüren und sie meistern." (H. S. im Interview, Kunstforum Bd. 94). Im vorderen Bereich der großen Ausstellungshalle kurz hinter der Treppe steht eine konzentrische Stahlarbeit (1,2,3,4,5,6,7,8, 1987) von Richard Serra neben einem Werk von Carl André mit 23 Holzbalken (Revel [For KF], 1987). Der Abstand des äußeren Kreises der Arbeit von Serra, die durch die Kanten der Stahlplatten gebildet werden, zu der Arbeit von Carl André beträgt circa 4 Meter. Der Abstand der Bodenarbeit von Carl André zu einem weißen Kubus mit abgeschnittener Ecke, Höhenmaß 5 Meter (Cube without a corner, 1988), beträgt circa 2 Meter. Das Dreieck zwischen der schon erwähnten Arbeit von James Lee Byars, einer Arbeit von Royden Rabinowitch (Two Right und Two Left Handed, Sames Sized, Differently Developed Half-Conic Surfaces Applied to Full Opposed Right-Angular Space Maintaining Local and Somatic Descriptions, 1988) und einem Werk von Donald Judd (Untitled, 1973) beträgt circa 3 Meter. "Und dann kommt meine Interpretation des Raumes hinzu... So wird es, das skulpturale Poem im Gesamtraum." H. S., op. cit.). Die große Halle beherbergt siebenundzwanzig Werke, unter ihnen ein kleiner Iglu von Mario Merz (Che fare? 1969/1988, Höhe l Meter) und Imi Knoebels 'Heerstraße 16' von 1984 mit einer Höhe von 3 Meter 50. Das sind die materiellen Bezüge. Die inhaltlichen spielen sich für Szeemann anscheinend nur in Oppositionen ab: Hoch gegen flach, rund gegen gestreckt, kubisch gegen rund, flach gegen hoch, künstliches Licht gegen natürliches Licht. Die zuletzt genannte Opposition bezieht sich auf die Arbeiten von Dan Flavin und Cy Twombly. 'Das Monument für V. Tatlin' von 1966 steht den fragil-farbigen Skulpturen von Cy Twombly gegenüber. Korrespondenzen ergeben sich nicht: Zum Beispiel Knoebels 'Heerstraße' mit einer Arbeit von Willi Kopf, die kontrastieren könne mit den Holzkästen von Donald Judd. 'Yellow Wallpiece' (1987). Es geht aber nicht um Erkenntnis oder um die Freilegung einer Bedeutung, die die Abwerdung vom Sockel beeinhaltet und dessen eigenständige Wiederkehr in den Arbeiten von Didier Vermeiren. Es geht um Wörter und deren Konstruktion in der Wirklichkeit: "Die Präsenz des Positiven ist das Reale." (H. S., op. cit.) Das Vorhandene ist auf einfachsten Oppositionen aufgebaut, für die es keiner einunddreißigjährigen Ausstellungspraxis bedurfte. Erkenntnisse und spannende Korrespondenzen, die über das bloße Werk hinausweisen, ergeben sich rein zufällig: Die Arbeiten von Reinhard ucha sehen sich in einem der Nebenflügel konfrontiert mit einem übereinander angeordneten Heizungsgerippe, das dem Werk gegenüber skulpturale Qualität gewinnt. Gleichfalls ist Knoebel Skulpturensemble 'Papa, look at the mountains' von vorgefundenen Wandapplikationen umgeben, die die Grenzen des eigentlichen Werkes aufheben. 'Zudem fordert dieser grandiose Rahmen jede einzelne Skulptur heraus, sich autonom ihren Atemraum zu erobern und gleichzeitig sich im Zusammenleben mit anderen zu behaupten.' (PR Text Zeitlos). Wer sich solcher Metaphern bedient, muß sich sagen lassen, daß die Ausstellung an ihren Massen und Ausmaßen erstickt. 'Zeitlos' leidet an Mißverständnissen und Widersprüchen. Einer dieser Widersprüche ist jene oben angesprochene Revolution: Wird sie analytisch begriffen, ist sie nicht als Erkenntnismodell umgesetzt worden. Wird sie allein metaphorisch aufgefaßt, kann sie keine Darstellung finden, die ihr gemäß ist. Eine 'Raumskulptur' wie Carl André '5 x 7' von 1988 mit den Ausmaßen 5 x 7 m kann sich nicht neben einem Raumkubus von 5 x 5 m behaupten. Alle Arbeiten und Installationen, die sich nicht mit dem eigentlichen Thema auseinandersetzen, wirken stärker und überzeugender, obwohl sie auch Erwartungen entsprechen. Während der eine Flügel in Sockelskulpturen von Marisa Merz und Franz West auf den 'Skulpturenkomplex' von Judd, Naumann, Boltanski, Buren und Virnich führt, konzentriert sich der andere Flügel auf die Sockelskulpturen von Ingeborg Löscher, die zwei Skulpturräume von Vercruysse und die Installation und die Wandarbeiten von Reinhard Mucha. Neben einer abgeknickten Säule von Inge Mahn sind die Arbeiten von Ingeborg Lüscher (muß man es erwähnen?: Frau von Harald Szeemann) und Marisa Merz (Frau von...) die einzigen Arbeiten von Frauen. Daß sich gerade die letzten schön auf Sockeln präsentieren, neben den Arbeiten von Franz West und Cy Twombly, spricht weder für diese Kunst der Frauen noch für Harald Szeemann. An bestimmten Punkten setzt die Sensibilität aus. Was übrig bleibt, ist eine spezifische Form des Zynismus. "Ich hätte zur Verunsicherung des Affirmativen zum Beispiel Bruce Nauman als Störelement dazugestellt." Was Joachimides bei 'Zeitgeist' nicht getan hat, Szeemann hat es bei 'Zeitlos' vollbracht: Zwei Arbeiten von Nauman wirken in dem Gesamtkomplex als Störgeräusche im Gesamtrauschen, mehr nicht. Ihre Verbindung zum Thema ist nicht deutlich. Für Broodthaers 'Entrée de l'exposition' kann das gleiche gelten. Ausgewählt, um als bloße Entrée zu wirken und nicht als Offenlegung einer bestimmten Funktion, der des Museums, dienen die Palmen vordergründig als Schmuckstücke. Die zwei Siebdruck-Blätter 'Museum-Museum' sind so angebracht, daß sie erst beim Verlassen des Gebäudes wahrgenommen werden. (Diesen Hinweis verdanke ich Rainer Borgemeister.) Der Betrieb konsumiert alles, Unterscheidungen und Differenzen sind nicht mehr von Bedeutung, Inhalte werden zu Hülsen, und das Kunst-Entertainment hat seine Lieferanten. Für das nächste Jahr wird Harald Szeemann eine Ausstellung in Hamburg vorbereiten. Der Schein muß gewahrt bleiben, die Ausstellungsstücke von 'Zeitlos' wandern nicht in ein zeitweiliges Depot. [aus: Kunstforum International, Band 96, 1988]