HARALD SZEEMANN Didier Vermeiren Didier Vermeiren stellt drei Skulpturen aus Gips aus. Was sie innerlich verbindet, ist derselbe plastische Ausgangspunkt: der Sockel, dieses von einer ganzen Künstlergeneration verpönte und verworfene Ding. Verpönt, weil der Sockel ein Hilfsmittel war, das es auf dem Wege zu den elementaren Aussagen zu eliminieren galt. Der Sockel ist ein Gegenstand der Anhebung eines anderen Gegenstandes auf Augenhöhe, den man dank dieser Elevation besser von allen Seiten betrachten konnte, um sich eine synthetischere Idee vom allsichtig Betrachteten machen zu können. Wenigstens war dies seine Funktion zu Beginn der Moderne bis heute, als er, endlich aus Kirchen und Palästen herausgenommen, die chronische Wandnähe aufgeben konnte, um freistehend eine neue Existenz zu haben. In traditionellen Bereichen behielt er seine angestammte Funktion der Erhöhung, der Entrückung im Monument, war dieses nun einem Herrscher, einem Helden, einer Allegorie, den Gefallenen oder dem unverwüstlichen "Unbekannten Soldaten" gewidmet. Die Wahl des Künstlers fiel in unserem Falle auf einen "berühmten" Sockel, geschaffen zu Beginn der Geschichte der Skulptur am Anfang unseres Jahrhunderts, für die Figurengruppe "L'Appel aux armes" (1912) von Auguste Rodin. Kein Ready-made, sondern ein "Made". Die Form des Sockels ist 1:1 übernommen. Das Material des neu geschaffenen Sockels entspricht dem Material der Skulptur. Diese Appropriierung eines Sockels enthält in sich die Memoria der Skulptur, des heroischen "Appells", ja aller Sockel, ohne sie explizit zu machen. Im Gegenteil, der Rodinsche Sockel vollzieht sogar den Quantensprung zum "Trans"-Minimalen. In der zwar unberührten Sockelform ohne daraufgestelltes Monument schwingt autonom Minimalistisches mit, aber die Plinthe erzählt ihre eigene Geschichte des Übergangs vom Boden in den Quader als Abgrenzung, so wie der Goldrahmen vom Bild zur Wand notwendig war, als der Bildraum noch nicht allseitig offen und eine schlichte Baguette oder eben gar keine Abgrenzung mehr nötig war. Didier Vermeiren macht in seiner ersten Skulptur von diesem Sockel fünf Abzüge, deren Aufstellung im Raum sich nach den Gegebenheiten des Ortes richtet. Jeder dieser identischen, zur autonomen, von Vermeiren mit seinem Namen signierten Skulptur gewordenen Sockel wird Teil einer Gesamtskulptur, die dem freien Spiel der Plazierung ihr Sein verdankt, mal mehr um ein Zentrum kreisend, mal eine Vielfalt von Achsen und Distanzen in sich bergend. Die Memoria an das Monument wird so aufgelöst, die Sockel werden moderne, mehr horizontal als vertikal empfundene, volle Volumentische. Die zweite Skulptur zieht es wieder zum Monument hin. Zwei Einzelteile sind aufeinandergestellt. Das uns bekannte Grundelement nimmt seine einstige Funktion wieder auf; es wird Sockel für das zweite Element, das schräg auf ihm plaziert ist, angehoben durch die Armierung im spitzen Winkel. Während die untere Sockelskulptur ein Positiv ist, ist die obere eine Negativ- form, also die Gußform des Sockels. Sie wendet ihre rauhen, armierten Seiten nach außen, die glatten zum Abguß bereiten Seiten sind innen. Die Dialektik Positiv - Negativ, rauh - glatt kommt voll zum Tragen und wird noch verstärkt durch die Differenz in der Gipsfarbe: unten das kalte Gips-Weiß, oben durch die Brechung ein warmer Gips-Weißton. Ein kälteres Positiv hebt und trägt ein wärmeres Negativ. Oder: Zwei ungleiche Zwillinge, von denen eines die Matrix des anderen ist, Disziplin und Expressivität, Glätte und haptischer Reichtum verbinden sich zum Monument. Die dritte Skulptur steigert die Subtilität. Man meint zuerst, nun sei das Negativ wieder vom Sockel gestiegen und hätte sich selbständig gemacht, sich auf den Rücken gelegt, um den Blick ins Innere freizugeben, das auf dem Sockel doch nur schwer einsehbar war. Aber der Blick ins Innere belehrt uns eines anderen: Die Fußleisten treten hervor. Wir haben also die Verinnerlichung des Grundelements vor uns. Jede Seite des Sockels wurde um 180 Grad gedreht und zum falschen Negativ zusammengesetzt, das nun wieder autonome Skulptur wird mit einem eigenen Innenleben, das sonst sein Außenleben ist. Von der referentiellen, intuitiv-spielerisch räumlichen Demonstration zum autonomen Werk, das ist die Bandbreite dieser handwerklich perfekten metaphorischen Arbeit, die das Wesen des Skulpturalen heutig, vielschichtig trifft.