LUTZ WINDHÖFEL "Visionäre Schweiz" Kunsthaus Zürich, 1.11.1991 - 26.1.1992 Museo Nacional Reina Sofia, Madrid, 11.3. - 11.5.1992 Städtische Kunsthalle und Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 26.6. - 30.8.1992 Was ist die Schweiz? Ein Agglomerat dreier Sprachregionen, das heute im Zeitalter eines multikulturellen Europa als erfahrungserprobtes Vorbild dienen kann. Eine Interessengemeinschaft, die einst aus bäurischem Stolz gegen die feudalistischen Habsburger entstand und heute wie ein Igel ihren Wohlstand gegen den Rest der Welt verteidigt. Ist die Schweiz ein Land, in dem das Bewußtsein um den Rang harter Valuta dem zarten Geschöpf des Kreativen einen Platz läßt. Gibt es dort gar "Visionen", Bilder einer erdachten, erträumten, gesehenen, aber doch immer menschengerechteren Welt. Harald Szeemann behauptet es und führte das Werk von 9 Künstlerinnen und 49 Künstlern im großen Ausstellungssaal des Kunsthauses Zürich in Form einer ästhetischen Collage zusammen, die fast gänzlich unter nationalen Vorzeichen stand. Franz Huemer, ein in der Morphologie von Wurzeln seine Vision entdeckender Österreicher, und der Pariser Christian Boltanski mit seiner Installation "Réserve des Suisses morts" (1990/91) waren die nicht eidgenössischen Teilnehmer. Doch so sehr Szeemann die Protagonisten seiner "Visionären Schweiz" überwiegend im 20. Jahrhundert und bei Teilen der Zeitgenossen fand, meint er die Moderne im Ganzen und greift mit einem Meditationsbild (um 1478) des heiliggesprochenen Nikolaus von Flüe bis auf den Schnittpunkt von Hochmittelalter und früher Neuzeit zurück. Den chronologischen Gegenpol bildet eine Serie neuerer Zeichnungen von Martin Disler. Kulturpolitisch zeigt Szeemann allein durch die Themenwahl Zivilcourage, denn die Schweizer Künstlerschaft, namentlich die in den Medien einflußreichen Literaten zweiten und dritten Rangs, hatten sich durch die Staatsschutzaffäre 1989 zu einem Kulturboykott der 700-Jahr-Feiern der Eidgenossenschaft 1991 entschlossen. Szeemann wagte jedoch den soliden, ernsten, kritischen, naturgemäß wenig humorvollen, aber immer offenen Blick auf die visuelle Kultur der Nation. Welchen Grad des kreativen Impulses er zum Kriterium der Wahl hatte, bleibt im Vagen, und daß die Thematisierung einer nationalen Geographie meist ein methodisches Raster ist, ein operatives Ordnungsschema, dem Sinn und Willkür gleichermaßen zugrunde liegen, war dem Leiter der documenta 1972 und dem Ausstellungsmacher der "Junggesellenmaschinen" (1975), des "Monte Verità" (1978) und dem "Hang zum Gesamtkunstwerk" (1983) wohl bewußt. Das Schweizertum bestehe einzig in der "Herkunft des Kreativen", nennt es Szeemann, und was an Kreativität in diesem Fall von Rang und Wert ist, bestimmt sein "Museum der Obsessionen". Kriterium wird so eine private Seismographie, die jeden Rechtfertigungsdruck gegenüber der Kunstgeschichte mit der Souveränität eines vermittlerischen Absolutismus von sich weist. Szeemann "schreibt" mit der "Visionären Schweiz" seine Recherchen im Bereich des Gesamtkunstwerks fort. Er verfolgt Spuren in den Grenzbereichen der Kreativität, wo Umfang und Form ästhetischer Absicht oft wichtiger sind als das Ergebnis. Andererseits bleibt das autonome Meisterwerk, die durch Selektionsdruck hervorgebrachte Ausnahmeerscheinung, das strukturierende Element des bildnerischen Rundgangs. Caspar Wolfs mächtige Alpenpanoramen aus der frühen Aufklärung, Johann Heinrich Füsslis "Odysseus zwischen Skylla und Charybdis" (1794 - 96) und sein berühmter "Nightmar" (1781, aus Detroit) gehören wie Böcklins Drittfassung der "Toteninsel" (1886, aus Leipzig), Hodlers "Steigender Nebel mit Wetterhorn" (1908), Klees "Ad Parnassum" (1932), Sophie Taeuber-Arps "Triptychon" (1918) oder Alberto Giacomettis "pointe à l'oeil" (1932) zu einem Gipfeltreffen europäischer Kunst aus helvetischer Provenienz. Alle Werke erfüllen hier das Kriterium ästhetisch-"visionärer" Innovation über Frühromantik, Symbolismus bis zur abstrakten und surrealistischen Avantgarde im ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Analoges gilt auch für den eidgenössischen Beitrag zu Neo- Dada, Nouveau Réalisme und Fluxus im zentralen Kabinett der Ausstellung. Mit Werken von Tinguely und Dieter Roth, von Bernhard Luginbühl, Daniel Spoerri, Robert Müller oder Markus Raetz rekapituliert man jene Anarchie zwischen politischer Absicht, Lustbetonung und konzeptuellem Sehen, mit dem Helvetiens Künstlerschar ab den späten 50er Jahren die westeuropäische Szene alimentierte und die Ben Vautier mit seinen neuen Schriftbildern "Je pense, donc je suisse" und "La suisse n'existe pas" am Leben erhielt. Die Stimmen, die nicht in diesen mächtigen Chor paßten, präsentiert Szeemann in Seitenkabinetten. Meret Oppenheim ist hier mit stillen Materialbildern ebenso vertreten, wie André Thomkins fehlt, und die massive Präsenz Richard Paul Lohses bei völliger Absenz Max Bills unverständlich bleibt. Die Faszination der "Visonären Schweiz" liegt weniger in der Reihung dieses weitgehend unbestrittenen Inventars der Schweizer Moderne als in den Nischen, die das kunsthistorische Korsett bietet. Die Offizialkunst wird erst in der Konfrontation mit Szeemanns kuriosen kreativen Entdeckungen zum Spannungsfeld. Die Art brut ist mit den Klassikern Adolf Wölfli und Louis Soutter wie auch mit den kaum bekannten Aloise Corbaz und Esther Altdorfer vertreten. Überhaupt wird nun das Prinzip des Manischen, das Element des rückhaltlosen Verfolgens einer Produktionsidee zum zentralen Impuls der Schau. Armand Schulthess' im Tessin entstandene "Enzyklopädie im Walde" (1950 - 1972), von Szeemann erstmals auf der documenta 5 gezeigt, wurde in einer monumentalen Installation rekonstruiert, und die unbehauste Existenz des Werks nimmt ein Iglu von Mario Merz in sensibler Nachbarschaft auf. Modelle im Maßstab 1:7 und 1:100 zeigen den "Tempel der Kunststätte", den der Schweizer Johann Michael Bossard ab 1910 in der Lüneburger Heide realisierte, wie auch den "Weinrebenpark" bei Zürich. Bruno Weber errichtet dort in einem Waldstück seit 1964 einen Wohn- und Aktionsraum mit ornamental-byzantinistisch bemalten Betonarchitekturen. In der Monumentalität der Anlage und der unbegrenzt scheinenden formalen Phantasie ist Webers Gesamtkunstwerk im zeitgenössischen Kontext ohne Beispiel. Eine Wiederentdeckung ist Gilbert Clavel. Schon von Walter Benjamin bewundert, baute der aus Basel stammende Futurist im italienischen Positano einen alten Wohnturm aus. Über den bis ins Möbeldesign gestalteten "Torre di Formillo" (1907 - 1927) sprengte Clavel seine architektonische Vision bis auf 110 Metern Länge in den Fels. Völlig unbekannt war bisher die monumentale Weihestätte "PAXMAL" (1925 - 1949), die Karl Bickel über dem östlich von Zürich gelegenen Walensee in seiner Friedenssehnsucht realisierte. Szeemann zeigt und bewertet nicht. In der Gleichwertigkeit von Futurismus, Expressionismus, Neosurrealismus oder dem Monumentalismus des "PAXMALS" entwertet er vielmehr den akademischen wie ideologischen Blick. Dennoch bleibt der Anarchist Szeemann der Historiker Szeemann. Füslis berühmte Bilder aus der hohen Zeit der Aufklärung sind so auf der Längsachse des Bührli-Saales des Kunsthauses plaziert, daß sie die lockere Chronologie des Rundgangs mit einem programmatischen Imperativ rahmen. Mutig und listig wird die etablierte Historie präsentiert und dort von Szeemann ergänzt, wo eine auf Ismen fixierte Geschichtsschreibung bisher mit Ausschluß reagierte. Mit Spitzenwerken legitimiert der Ausstellungsmacher sein Vorgehen. Mit teilweise extremem Ungleichgewicht der Exponate unterläuft er dabei jeden Eindruck von Ausgewogenheit und betont eine Kunstgeographie in der Nähe von Ethnographie und Peripherie. Enttäuschend ist die Ausstellung im Bereich der jüngeren Zeitgenossen. Mit Ben Vautier (geboren 1935!), Niele Toroni (1937), Markus Raetz (1941), Christian Boltanski (1944) und Martin Disler (1949) geht Szeemann nicht über längst abgesteckte Ziele hinaus. Es ist fraglich, ob die Generation der heute 25- bis 40jährigen im Land wirklich ohne jede Vision arbeitet, die den Rahmen rein selbstreflexiver Produktion überschreitet. Das Cover des angenehm bescheiden wirkenden Katalogs, der alle Künstler in monographischen Beiträgen würdigt, ziert ein in Stein gehauenes Schweizerkreuz. Der 1968 verstorbene Tessiner Ettore Jelmoroni hat sein "Croce Svizzera" aus Granit geschlagen, und wie ein monumentales Amulett hängt es beweglich, aber unzertrennlich am Block, aus dem es hervorwuchs. Auch das gehört zu Szeemanns "Visionärer Schweiz". Bis Ende Januar war die Ausstellung in Zürich zu sehen. In veränderten Fassungen wird sie vom 11. März bis 11. Mai im Museo Nacional Reina Sofia, Madrid, und vom 26. Juni bis 30. August in der Städtischen Kunsthalle und dem Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, gezeigt. Der Katalog hat 304 Seiten und kostet 48 Franken.