LUTZ WINDHÖFEL Der Film kommt aus dem Leben Harald Szeemann inszeniert »100 Jahre Kino« Kunsthaus Zürich, 10.11.1995 - 25.2.1996 Kann man das Medium Film ausstellen? Die Geschichte, als die Bilder zu laufen begannen, ist zu einer Art Marathonlauf geworden. Indien soll allein über 700 Spielfilme pro Jahr produzieren. Aber auch Hollywood, Babelsberg in Berlin oder Cinecittà in Rom stellen oder stellten am laufenden Meter Krimis, Komödien, Familienstücke fürs Herz, Monster- und Gruselfilme, Science-fiction oder Historienschinken her. Und über allem schwebt die Liebe, mitunter auch ganz wörtlich die Religion, wie sie Pier Paolo Pasolini (der auch ein passabler Zeichner war) häufig zum Thema machte. Und dann das viele Geld. Bevor Herbert von Karajan, Luciano Pavarotti oder Michael Jackson zu Superstars der Musikwelt oder Vincent van Gogh zu einem solchen der bildenden Kunst wurde, waren steinreiche Filmproduzenten und Schauspieler (natürlich auch Schauspielerinnen) schon in Legionsstärke vorhanden. Von Stars und Sternchen lebt längst eine riesige Boulevardpresse. Ehekrisen bei Schauspielern oder im englischen Königshaus sind Dauerbrenner des Publikums. Naturgemäß mußte sich die Ausstellung im großen Saal, im Treppenaufgang und im graphischen Kabinett des Zürcher Kunsthauses beschränken. Und mit dem Untertitel "Die 7. Kunst auf der Suche nach den 6 anderen" paraphrasiert Harald Szeemann Luigi Pirandellos Drama "6 Personen suchen einen Autor". Und genau so fängt es an. Szeemann hat das gigantische Material in kleine Stücke zerlegt und setzte es mit dem wie immer beträchtlichen Mitarbeiterstab zu kleinen Einheiten zusammen. In einer Vielzahl von Kabinetten, Gängen und Durchblicken werden die Filmstreifen nach Inhalt und Technik gezeigt. Den "Cut" haben die Ausstellungsmacher dabei zu ihrem Grundelement gemacht. Aus dem gesichteten Material haben sie Szenen von Welterfolgen, Klassikern oder auch Studiofilmen geschickt aneinandergehängt. Das ist informativ und kurzweilig. Und für den langjährigen Kinofreund gibt es häufig vergessene déjà-vues wie Jacques Tatis meisterhafte und urkomische Tennispartie in "Les vacances de Monsieur Hulot". Ein Kabinett zeigt eine klobige, alte Filmvorführmaschine, eine andere berühmte oder spektakuläre Ausstattungen. Es gibt weltbekannte Standfotos und intime, kaum bekannte Aufnahmen. Harald Szeemann hat in Zürich ganz der Kraft der Bilder vertraut und präsentiert mit einer technisch höchst aufwendigen Projektions- und Videolandschaft ein verwirrendes, unterhaltendes, angsterregendes und Megalomanie ausstrahlendes Medium. Der Film kommt aus dem Leben, aus Depression und Gewalt, Herrsch- und Eifersucht, Geldgier und Mord, Armut, Liebe und Luxus. In Zürich wird nichts verschwiegen. Ein Leporello mit Basisinformationen wird als Wegweiser gratis abgegeben. Als Begleitpublikation wird die Hochglanzbroschüre »100 Jahre Kino. Das Album« mit 148 Seiten für 40 Franken abgegeben. BILDUNTERSCHRIFTEN Return of Doctor X, USA 1939, Vincent Sherman mit Humphrey Bogart. Foto: Crail Schuyler; rechts oben: Moulin Rouge, GB 1952, John Huston, José Ferrer als Toulouse Lautrec; rechts Mitte: Rita Hayworth in »Gilda«, Charles Vidor, 1946. Foto: Photofest, New York; rechts unten: The Chelsea Girls, USA 1966, Andy Warhol. Courtesy Kunsthaus Zürich