Ein dritter FAZ.NET Rundgang fragt wie dokumentarisch die D11 ist Von Ludwig Seyfarth, Kassel 9. Juni 2002 Ein wichtiger Aspekt der Documenta 11 ist die Auseinandersetzung mit dem Dokumentarischen, gerade auch in den Beiträgen afrikanischer Künstler. Was aber heißt "dokumentarisch"? Steht es im Gegensatz oder im Konflikt zum Ästhetischen? Wo ist die Grenze zwischen Dokument und Kunstwerk? Dass man mit landläufigen Meinungen und Unterscheidungen hier nicht mehr auskommt, macht der Kulturphilosoph Boris Groys in seinem brillanten Beitrag im eben erschienenen Documenta11-Katalog deutlich. Groys vertritt die Ansicht, dass die Kunstdokumentation an die Stelle der Kunst getreten sei. Damit meint er weniger den längst gängigen Sachverhalt, dass Fotos, Videos oder andere Aufzeichnungen dauerhaft dokumentieren, was als Happening oder Performance einmal und unwiederholbar und lebendig stattgefunden hat. Seine zugespitzte These ist vielmehr, dass wir es heute mit Lebens- und dementsprechend auch mit Kunstformen zu tun haben, die nur noch in Form ihrer Dokumentation existent sind. Autonome Kunstwerke sind nirgends zu finden Diese scheinbare Paradoxie lässt sich jetzt deutlich in der documenta-Halle nachvollziehen. Dort ist nichts zu sehen, was auch nur halbwegs einen abgeschlossenen Werkcharakter aufweist. Das Hamburger "Park Fiction" Projekt etwa, das 1994 von Künstlern, Musikern und Mitgliedern einer Bürgerinitiative in St. Pauli gegründet wurde, kann schon deshalb "nur" als Dokumentation der Gruppenaktivitäten in Erscheinung treten, weil das Ziel nämlich den Park zu verwirklichen, politisch bislang nicht durchgesetzt werden konnte. Steht hier ein lokalpolitisches Geschehen beispielhaft im Fokus, richten andere Dokumentationen den Blick auf weltweite Geschehnisse. Die "Globalisierung" wurde ja auch schon im Vorfeld als Themenschwerpunkt dieser Documenta11 herausgestellt. So begegnet man gleich zu Beginn des Parcours in der Binding-Brauerei der zwischen 1990 und 1995 entstandenen "Fish Story" des Amerikaners Allan Sekula. 105 Farbfotos, 26 Texttafeln und zwei Diaprojektionen spüren den Arbeitsbedingungen in Häfen in aller Welt nach. Sekula folgt gleichsam der weltweiten Warenzirkulation auf dem Seeweg, wobei seine "Ikonografie der Arbeit" auch die kulturellen Unterschiede herausstellt, die sich durch die Globalisierung keineswegs verringern. Einigen Bildern sieht man recht genau an, ob sie in Korea, in Neapel oder in Los Angeles entstanden sind. Das private Gefängnis steht für Freiheit Das Verhältnis von Bild und Text ist auf dieser Documenta ein immer wieder in neuen Facetten erscheinendes Thema. So richten die Fotos des Südafrikaner Kendell Geers im Kulturbahnhof, gleich neben dem Kasseler Hauptbahnhof, den Blick auf die Schilder an Mauern und Grundstückseingängen, die auf die installierten Alarmanlagen oder elektrischen Zäune hinweisen. Dies sind Orte, an denen, wie es der Künstler selbst pointiert ausdrückt,"sich Menschen dadurch schützen, dass sie sie zu Gefängnissen ausbauen und sich damit zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilen, die sie Freiheit nennen." Geers nutzt ästhetische Vorgehensweisen der Konzeptkunst, um ganz direkt politische Statements zu machen. Er ist ein radikaler Gegner der Apartheid, die sich, obwohl offiziell abgeschafft, in den krassen ökonomischen Unterschieden und hohen Kriminalität in der südafrikanischen Gesellschaft immer noch am Leben hält. Geers' vermittelt seine politische Botschaft über das subtil beobachtete Detail, und gerade dadurch ist das auch ästhetisch kraftvoll und überzeugend. Ähnliches gilt für die gleich daneben gezeigte Fotoserie mit dem lapidaren Titel "Sommer in Italien", die die Wiener Künstlerin Lisl Ponger nach dem G8- Gipfel letzten Jahres in Genua gemacht hat. Man sieht keine Straßenschlachten, sondern verplombte Kanaldeckel oder gesprühte Parolen und Graffitis an Hauswänden oder Pollern. Die Spuren der Auseinandersetzungen haben die Stadt gleichsam tätowiert. Würde von Lagos als inszenierte Wahrheit Weniger auf's Detail, denn aufs Ganze gehen die Fotos des Nigerianers Oluuyiwa Olamide Osifuye, die seine Heimatstadt, die 15-Millionen-Metropole Lagos, ins Bild setzen. Die Ströme von Menschen und Autos oder der Blick über die Dächer des weitgehend flachen, sich zu keiner Silhouette verdichtenden Häusermeeres drücken einerseits spontane Lebendigkeit aus, andererseits stehen manche der Bilder der kompositorischen Sorgfalt eines Andreas Gursky kaum nach. Aber auch hier gibt es eine "Botschaft", nämlich die, das Lagos nicht die heruntergekommene Kloake ist, über die man im Westen gern berichtet. Ein afrikanischer Fotograf inszeniert die klassische Würde seiner Stadt, ohne die Zeichen der Globalisierung zu übersehen. Wenn ein großes "Pepsi"- oder "Samsung"-Werbeschild auftaucht, erscheint es nicht als aufgesetzter Fremdkörper, sondern gleichsam naturalisiert in den pulsierenden Rhythmus dieser Metropole. Geradezu gegenteilig auf Kontrast angelegt geht David Goldblatt in seinen Fotos aus Johannesburg vor. Hinter einer Müllhalde ragen die glatten Kuben der Wolkenkratzer hervor, die Ödnis der Slums ist immer wieder kontrastiert mit perfekt sauberen und neuen Wohnsiedlungen oder postmodernen architektonischen Versatzstückspielereien, die eher an Las Vegas oder Disneyland denken lassen, denn an Südafrika. Dokumentarisches und Künstlerisches sind nicht mehr zu trennen Goldblatt zeigt auch die Kehrseiten der Stadt, die ein touristischer Prospekt oder ein Bericht im Fernseh-Reisejournal eher ausblenden würden. Ist das bloß "dokumentarisch"? Oder geht es hier nicht um eine Art Schule des Sehens, wie sie die Kunst der Moderne immer sein wollte? Wenn nur noch das für wirklich gehalten wird, was durch die wiederholte Berichterstattung in den Medien längst zum Klischee wurde, schafft der Blick auf das Alltägliche, das Unspektakuläre eine Differenzqualität, treibt Ambivalenzen und Komplexitäten hervor, was eine künstlerische Herangehensweise von einer "angewandten" immer schon unterschied. Das Dokumentarische ist vom Künstlerischen heutzutage nicht zu trennen, und auch nur so lassen sich Welt sichten aus Lagos, Tokio, New York, Berlin, Sao Paulo oder Bombay sinnvoll nebeneinander stellen. Die zwanglose Auffächerung dokumentarischer Vorgehensweisen ist eine wichtige Voraussetzung, mit der die Documenta11 den Anspruch auf Überwindung des Eurozentrismus einlösen kann. Denn dadurch umgeht man die Frage nach dem Stil oder einem Fortschritt bestimmter Ismen und Richtungen, mit der man außereuropäischen oder -amerikanischen Kunstszenen immer noch einen falschen Maßstab oder einen angeblichen Rückstand vorrechnen könnte. Und würden sich Afrikaner oder Asiaten umgekehrt einer Ästhetik bedienen, die ihrer ästhetischen Tradition entspricht, würden wir ihre Inhalte und Symboliken kaum verstehen können. Wenn im Zeitalter der Globalisierung Kunst ein Mittel der Verständigung sein soll, ist sie auf das Dokumentarische als eine Art Esperanto dringend angewiesen. Text: @seyf Bildmaterial: Courtesy of Christopher Grimes Gallery, Santa Monica