Martha Bösch: Alchemie der Zeichen. 2001 Vielerlei semiotische Systeme umgeben uns. Wir bewegen uns in möblierten Landschaften, nehmen unbewusst Signale der verschiedensten Systeme auf oder übertragen selbst unsere Systeme auf unterschiedlichste Objekte. Gibt es in all dem Dekor, in all den Verkleidungen und Mustern, mit denen wir uns umgeben, Zusammenhänge oder herrscht völlige Beziehungslosigkeit? Christiane Spatt ist Sammlerin und Jägerin zugleich. Eine Art Freibeuterin des öffentlichen und privaten Raums sammelt sie "objets trouvés" aller Art, wobei ihre Sammlung nicht aus Gegenständen besteht, sondern aus Ausschnitten, die sie mit der Kamera festhält. Look up, look down - indoor und outdoor, quer durch Natur und Architektur: Die Wahl der fotografierten bzw. später nach den Fotos gemalten Details folgt keinerlei hierarchischen Ordnungen, sondern weist konsequente Äquidistanz auf, was dem von der Künstlerin bevorzugten Prinzip des Patchworks entspricht. Muster transportieren Bruchstücke von ästhetischen Konventionen, Konventionen des Geschmacks, die ihrerseits brüchig, ekklektizistisch, disparat und kohärent zugleich sind. In ihren Patchworks löst die Künstlerin die dinglichen, räumlichen und soziokulturellen Kontexte völlig auf. In der Arbeit "2829" fotografiert sie beispielsweise im Haus ihrer Mutter Fliesen, Bodenbeläge, Wandverkleidungen, Schrankelemente usw.: Linoleum, Resopal, vielerlei Kunststoff - also die typischen Surrogate der 60er und 70er Jahre, die den Einzug der industriellen Welt in die Sphäre der privaten Haushalte signalisieren. Die durchschnittliche Kleinfamilie strebte einerseits nach Modernität, hielt andrerseits an tradierten Werten (Trachtenstoffe, florale Tapetenmuster) fest.. Die Künstlerin greift beide Tendenzen auf, ohne sie zu bewerten. Geht es Christiane Spatt um die Dekonstruktion der Kindheitswelt oder bedient sie sich einfach aus dem großen Fundus der Alltagskultur um eine erinnerte innere Welt zu rekonstruieren? Es ist ein Prozess der Annäherung, der langsamen Kontaktaufnahme mit der Welt der Mutter und des frühen eigenen Erlebens. Das Sensorium, das diese intensive, präzise Wahrnehmung leitet, ist ein warmes, lebendiges: Die in frühen Jahren aufgenommenen ästhetischen Eindrücke haben sich mit Gefühlen amalgiert, die um nichts in ihrer Intensität verringert sind, einzig der veränderte Erfahrungszusammenhang der Künstlerin lässt sie nun vertraut und fremd, nah und fern zugleich erscheinen: "Was wir in die äußere Realität projezieren, kann kaum etwas anderes sein als die Erkenntnis eines Zustands, in dem ein Ding den Sinnen und dem Bewusstsein gegeben, präsent ist, neben welchem ein anderer besteht, in dem das selbe latent ist, aber wiedererscheinen kann, also die Koexistenz von Wahrnehmen und Erinnern, oder ins Allgemeine ausgedehnt, die Existenz unbewusster Seelenvorgänge neben den bewussten. Man könnte sagen, der "Geist" einer Person oder eines Dinges reduziere sich in letzter Analyse auf deren Fähigkeit, erinnert oder vorgestellt zu werden, wenn sie der Wahrnehmung entzogen sind." (Sigmund Freud, Totem und Tabu). Dem warmen Prozess des Erinnerns gegenläufig ist der der künstlerischen Umsetzung: Die fotografische Ablichtung wird dem gewohnten Licht des täglichen Umgangs entzogen. Auffällig ist eine gedeckte, fast lichtlose Acryl-Palette. Spatt wählt Zoom-Ausschnitte, die die typischen ästhetischen Elemente nochmals inszenieren und dadurch verfremden. Ein kühler distanzierter Blick wie durch ein Mikroskop legt Strukturen frei, die plötzlich, losgelöst von ihrem ursprünglichen Zusammenhang, fremd erscheinen. Sind es Ornamente oder Organstrukturen, sind es Muster oder technische Zeichnungen, sind es Materialstrukturen oder Traumlandschaften? "Ich nehme etwas aus mir heraus und gebe es in die Dinge hinein. Umgekehrt ergeben die Dinge Zusammenhänge, Systeme." Dieser individuelle Prozess der Aneignung, den die Künstlerin durchlebt hat, obliegt nun dem Betrachter, der beginnt, rudimentäre Systeme zu rekonstruieren bzw. Ansätze zu neuen Systemen zu etablieren. Die auf den ersten Blick willkürliche Anordnung der Bruchstücke einer privaten und doch typischen Ästhetik setzt nach längerer Betrachtung einen Prozess der Umdeutung und Übertragung in Gang. Nach dem ersten Erkennen und Zuordnen der Ausschnitte erfolgt eine "Umschaltreaktion", die frei gesetzten Formen können mit neuer Bedeutung aufgeladen werden. Es ist eine Art Schaltkreis von Struktur und Information, wie ihn die Arbeit "System" symbolhaft abbildet. Dieses "System" ruft die Assoziation von elektromagnetischen Prozessen und Synapsenverbindungen hervor. Die Verbindungslinien zwischen den Kreis- und Quadratfeldern sind schematisch wie bei einer technischen Zeichnung, aber das ganze System befindet sich in einer immateriell anmutenden auratischen Hülle, die aus der unmittelbaren Wirkung der Übertragungsprozesse auszufließen scheint und gleichzeitig wie ein Fluidum die Impulsübertragung ermöglicht und schützt. Aura bedeutet Wirkungskraft. Welche Kräfte sind bei diesem Prozess der Amalgierung von Struktur und Information wirksam? Wie erhalten die Dinge um uns eine spezifische ästhetische Aura, wie kommt das menschliche Gehirn zu ästhetischen Wahrnehmungen? Sind es chemische Vorgänge, mikrobiotische Prozesse, die kulturelle Archivierungen einschreiben, die immer wieder abgerufen, sozusagen geladen werden? Nicht umsonst beschäftigt sich Spatt mit Modellen der Naturanschauung. Vorwissenschaftliche, wissenschaftliche und esoterische Ansätze lässt sie auf spielerische Weise nebeneinander bestehen. Spatt scheint es aber nicht um Entschlüsselung im analytischen Sinn zu gehen, sie interessiert sich für die Vorgänge der Verwandlung und Anverwandlung, der Amalgierung und Aneignung. Der Begriff Possession, mit dem sie eine dreiteilige Arbeit bezeichnet, die Ausschnitte eines farbenprächtigen Himmels sichtbar macht, drückt etwas von dieser "postanimistischen" Beziehung zur Natur und den uns umgebenden Dingen aus. Erst durch die Amalgierung von Bewusstseinsprozessen und äußeren Sinneswahrnehmungen gelangen wir zur Aneignung von "Wirklichkeit". Es sind quasi alchemistische Vorgänge in unserem Bewusstsein, die die äußeren Formen mit Bedeutung füllen. So ist es kein Zufall, dass Christiane Spatt zu Hause eine Sammlung von gläsernen Gefäßen, gläsernen Herzen und gläsernen Briefbeschwerern besitzt: Das Gefäß ist gleichzeitig Inbegriff der leeren Form und Träger der Fülle. In den Arbeiten "Gläser 97" und "Gläser 98" erscheinen die Gefäße undurchdringlich, opak, umso mehr leuchtet die Aura der unbekannten Substanz, die sie fassen. Eine der jüngsten Arbeiten - "O.T." - könnte man als "Bodenarbeit" bezeichnen. Es sind 25 quadratische Platten, mit strapazfähigem Nadelfilz beklebt, die man durchaus zu einem Teppichboden verlegen könnte. Jede dieser "Bodenfliesen" schließt ein Foto - einen quadratischen "Outdoor"- Ausschnitt - ein. In einer Art Mikrotopographie der Stadt wird Schritt für Schritt unsere Außenwahrnehmung sensibilisiert und unser topographisches Gedächtnis belebt. Auswahl und Anordnung folgen wieder dem Prinzip von Collection und Patchwork. Filz schluckt die Außenreize, dämmt und dämpft. Umso reizvoller die überraschenden Ausblicke auf andere Boden- und Wandbeschaffenheiten. Ein Spiel zwischen Innen und Außen, das unscheinbaren Details ästhetisches Gewicht verleiht und festgefahrene Wahrnehmungshierarchien aufmischt. Das Quadrat fungiert in fast allen Arbeiten Spatts als formale Beschränkung, die ein Minimum an Eigendynamik im formalen Prozess erlaubt, aber ein Maximum an Abstraktion ergibt, was gerade im Zusammenhang mit den konkreten Sujets für eine produktive Spannung sorgt. Das Werk "Circles" umkreist nochmal auf sehr viel abstraktere Weise die Zusammenhänge von stofflicher Erscheinung, die wir in Systemen oder durch mikroskopische Analyse zu fassen versuchen. Auch hier gilt wie für alle Arbeiten von Christiane Spatt eine ruhige, fast meditative Haltung: Man könnte sie mit Equilibre und Equidistance bezeichnen: Look up, look down - geben wir unseren Sinnen Raum und Zeit, so gewinnen die Dinge etwas Magisches zurück und wir lustwandeln im "Garten der Proserpina".