Die Kunst, sich durchzuboxen Thomas Hirschhorns "Bataille-Monument" arbeitet erfolgreich am sozialen Rand der Documenta 11 / Von Georg Imdahl Die Documenta, so hatte die Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft Hessen die Mieter in der Friedrich-Wöhler-Siedlung im vorigen März wissen lassen, werde diesmal "mitten unter uns sein". Hier solle sich die Kunst, so verhieß der Rundbrief in hermeneutischer Diktion, "nicht von der Realität abheben - mit ihr ist die Wirklichkeit erfahrbar", indem sie "Begegnungen und Ereignisse" ermögliche. Gemeinsam mit den Anwohnern werde der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn im April mit dem Aufbau des "Bataille-Monuments" beginnen. Die "Außeninstallation" werde die Chance bieten, "vorhandene Lebensqualitäten zu erweitern": als "Werkzeug, um die Welt kennenzulernen". Die erste Überraschung bestand in der vielgestaltigen Form des "Denkmals". Handelte es sich doch nicht um einen Solitär, sondern um eine Ansammlung von Hütten, die in den Grünanlagen zwischen den Häuserblocks hochgezogen wurden. Eines der Werkzeuge in dem ungewöhnlichen "Monument" ist ein improvisiertes TV-Studio. Täglich gehen die Jugendlichen im "Offenen Kanal" des Kasseler Kabelfernsehens während der Documenta live auf Sendung. Ausgestrahlt werden Beiträge über Frauenboxen und Tätowierung, DJs und Popmusik, das Leben in der Nachbarschaft oder eine Stadträtin, die über Kunst spricht. Diesmal kommt jemand aus der Mitte der Nordstadt zu Wort. Der Mann mit dem hessischen Akzent und einer Nase, welche die Leidenschaft zu seiner Sportart fast schmerzlich zu erkennen gibt, schildert die Tiefschläge seiner Biographie: mit vierzehn ohne Abschluß von der Schule gegangen, Drogenkarriere, Therapie, zuletzt, vor einigen Jahren, die Diagnose: Krebs. Als er das alles überstanden habe, sagt der drahtige Mann, da habe es ihn gedrängt, sein Leben einmal aufzuschreiben, aus purer Selbsthilfe, um das Erlebte ertragen zu lernen. "Durchboxen. Ich lebe" heißt das Buch, das er im Offenen Kanal präsentiert. Er selbst nennt es sensationell, daß er tatsächlich ein Buch geschrieben hat. Der Titel der Biographie bringt in aller Kürze ein Programm auf den Punkt, das sich die Leute in der Nordstadt mühelos zu eigen machen können. Bei der elften Documenta, die sich fast gänzlich in den geschlossenen, musealen Raum der Präsentation zurückgezogen hat, zählt Thomas Hirschhorn zu den wenigen Künstlern, die Außenposten bezogen haben und auf der Straße einen offenen Prozeß anstoßen. Nicht um die Qualität eines fertigen Werks gehe es ihm, er wolle die Energien des Ortes stimulieren. Seine Hommage an den französischen Schriftsteller und Philosophen Georges Bataille (1897 bis 1962), ein karges Budendorf, scheinbar roh zusammengehauen aus Holz, Karton, Plastik und Klebeband, umfaßt eine florierende Döner-Bude, eine "Bibliothek Georges Bataille", geordnet nach "Wort, Bild, Sport, Kunst und Sex", eine "Bataille-Ausstellung" mit einer "Werktopographie", das Fernsehstudio und eine wuchtige Skulptur mit umwickeltem braunen Plastikband; der künstliche Baumstumpf sieht aus wie Bronze-Imitat. All diese Elemente sind vernetzt durch eine bunte Lichterkette: melancholische Farbtupfer in der monotonen Wohnkolonie. Die Arbeit an dem Monument ist für die rund fünfzig beteiligten Jugendlichen zu einem täglich sich erneuernden Plebiszit für diese zweite Realität aus Dienstleistung und Kultur geworden, die der Künstler in ihren Alltag eingewoben hat. Den Arbeitslosen fehle eigentlich die "Tagesstruktur", berichtet eine Sozialarbeiterin, "irgend etwas, für das es sich lohnt, morgens aufzustehen und bestimmte Termine auch mal einzuhalten". Nicht Gewalt und Kriminalität seien hier die Hauptprobleme, auch wenn mit Drogen gehandelt werde und es hier und da immer wieder mal Zoff gebe. Sorgen bereiteten vor allem aber "Verwahrlosungstendenzen" bis hin zur psychischen Auffälligkeit. Der Siedlung mit ihrem hohen Anteil an Ausländern und der deutlich über dem Durchschnitt liegenden Arbeitslosenquote von fünfundzwanzig Prozent mangele es an der nötigen Integration, zumal viele Bewohner aus unterschiedlichen Ländern stammen. "Da kommt schon einiges zusammen an Lebensstilen", sagt der Geschäftsleiter der Wohnungsgesellschaft. Niemand bemühe sich, den anderen zu verstehen, keiner kümmere sich um den Müll. In manchen Wohnungen liege nur eine Matratze auf dem Boden. Man frage sich: Wie kann man so leben? Alkoholismus sei eine logische Folge. Man hätte "darauf gewettet", daß schon kurz nach der Eröffnung das erste Teil des Kunstwerks "kleingehackt" würde. "Nicht unbedingt von den Bewohnern der Siedlung, sondern von außerhalb, weil ja die Documenta eine ziemlich elitäre Veranstaltung ist. Aber jetzt ist plötzlich echte Bodenhaftung da." Mit einem Mal funktioniert, was der Fachjargon als "soziale Kontrolle" bezeichnet: Ein gemeinsames Verantwortungsgefühl sei herangewachsen. An vielen Beispielen ist der neue "Team-Spirit" deutlich geworden. Jemand hatte dem Künstler den Laptop gestohlen. Hirschhorn habe die Sache nicht aufbauschen und schon gar nicht die Polizei rufen wollen, aber klargemacht, daß er auf den Computer nicht verzichten könne. Kurz darauf erhielt er ihn von anonymer Seite zurück. "Da hat Herr Hirschhorn, auch wenn er es nicht gern hört, wirklich Sozialarbeit geleistet", sagt der Geschäftsführer, "die Leute an einen Tisch geholt und ihnen Wertschätzung entgegengebracht. Bald kannte er fast alle namentlich. Das ist man in einem solchen Umfeld nicht gewohnt." Zweifellos würde das Leben im "Bataille-Monument" nicht so reibungslos funktionieren, hätte sich Hirschhorn nicht solche Anerkennung erworben und würde er nicht auch das leisten, was er immer wieder von sich weist: Sozialarbeit. Aber das Projekt erschöpft sich eben keineswegs darin, die Jugendlichen in ein Freizeitcamp einzubinden und zur Lektüre eines Philosophen zu animieren. Was dem Passagenwerk seinen Mehrwert verleiht, ist die Verbindung der Theorien und Diskurse, die von der Documenta 11 propagiert wird, mit der Praxis des täglichen Lebens. Während in den Ausstellungshallen ein dokumentarischer Stil in Fotografie, Video, Film eine breite Renaissance erlebt und die Lesbarkeit der Welt und ihrer krisenhaften Randlagen befördert, hat Hirschhorn für das "Bataille-Monument" die Peripherie direkt vor der Haustür der Documenta gewählt. Mit dem Ethos, die nüchterne Kraft des Faktischen zu bespiegeln, und einer tatkräftigen Vita activa, die er selbst herausfordert, trifft er einen Nerv der Documenta 11. Zugleich symbolisiert das Hüttendorf, was Georges Bataille in seinem Essay "Der verfemte Teil" von 1949 analysiert. Hirschhorn nennt sich einen "Fan" Batailles. Im Zentrum von dessen "allgemeiner Ökonomie" stehen die Überschüsse, die in der herkömmlichen Lehre der politischen Ökonomie verdrängt würden: Luxus und Krieg als "Verausgabung" von Energien, die sich nicht produktiv anhäufen ließen. Bataille diagnostiziert für die gesamte Menschheitsgeschichte einen "wahnwitzigen Überschwang": "Das beherrschende Ereignis ist die Entwicklung des Luxus, die Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen", so heißt es im "verfemten Teil". Bataille plädiert nicht für eine illusorische Rückbesinnung auf eine archaische Existenz, wohl aber für eine souveräne Haltung gegenüber der Überfülle, die der Kreislauf der Ökonomie unweigerlich hervorbringe. Eine solche Balance sinnfällig zu machen obliegt dem "Bataille-Monument" in seinem Zusammenspiel aus Bibliothek und Döner-Bude, Ausstellung, Fernsehstudio und Skulptur. Man kann dieses Ensemble jedenfalls so lesen, ohne daß es freilich nur einen Text illustrieren würde. Der Alltag in dem Ensemble ist eine Metapher für die Hervorbringung und Verausgabung von Lebensenergien. Das "Bataille-Monument", anfangs Experiment und Abenteuer, ist für viele längst zu einem ideellen Asyl geworden. Cengez, 23, Vater, geschieden, arbeitslos, liest in der "Ausstellung" Batailles Buch über Nietzsche, auf türkisch. Was genau darin stehe, könne er nicht wiedergeben, aber er habe es "im Kopf". Er macht eine kreisende Handbewegung vor dem Gesicht; die Menschen seien "abgedreht", sie wüßten einfach nicht, was gut für sie ist. Als nächstes wolle er sich das "öbszöne Werk" vornehmen. Anette, 18, berichtet über "George" Bataille und die anderen Projekte, die "der Thomas" schon so gemacht hat. "Da ging's immer um so Philosophen." Spaß? Nein, den habe er nicht, meint Nesat, 16, hinterm Tresen der Imbißbude. "Warum soll Arbeit Spaß machen?" Takir, 23, arbeitsloser Elektriker, sagt, der "Chef" habe ziemlich viel über Bataille erzählt; er hat es vergessen. Nun liest er ein Buch über den Kurdenführer Yilmaz Güney. Ansonsten arbeite er hier für Geld, führt regelmäßig Aufsicht in der Bibliothek. "Gibt gute Kohle, acht Euro die Stunde." "Wir sind dankbar für alles, was uns hilft, nicht nur in neue Dachziegel und Haustüren zu investieren", heißt es in der Wohnungsgesellschaft. Sorgen bereitet schon jetzt die Aussicht auf die Zeit nach der Documenta, wenn der "Kopf" gehe und das Monument wieder abgebaut werde. Die Eigendynamik, die das Projekt entwickelt hat - niemand hegt darüber Illusionen -, wird wieder erlahmen. Schon überlegt die Sozialarbeiterin, wie der Elan in neue Bahnen gelenkt werden kann. Auch sie habe das Leben in der Wöhler-Siedlung neu kennengelernt. "Abstrakt, aber sehr erdverbunden" nennt sie das raumgreifende Environment. "Klebeband kennt doch jeder Mensch, weil er es selbst benutzt", meint sie in Hinsicht auf die Skulptur, auf der die Kinder toben. Der Geschäftsleiter der Wohnungsgesellschaft findet es "einfach sehr clever", wie Hirschhorn die "vielen Menschen beteiligt und als Multiplikator für sich selber nutzt". Überzeugt hat ihn besonders, daß Hirschhorn "nicht nur eine einzige Ebene sucht, sondern den Menschen mit jedem Medium erreichen will. Man kann etwas angucken in der Ausstellung, etwas lesen in der Bibliothek, etwas visuell wahrnehmen im Fernsehstudio. Da bleibt doch vieles beim Betrachter hängen, und in dieser Kombination - das empfinde ich als Kunst." Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.08.2002, Nr. 188 / Seite 38