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Nitsch bei Leopold: „Heimkehr in den Vatikan“

03.11.2011 | 18:15 | ALMUTH SPIEGLER (Die Presse)

Nitschs grafisches Werk zeigt eine ruhigere, aber nicht weniger verstörende Seite des Aktionisten. Seine Kunst in all ihren wunderlichen, erschreckenden, sinnlichen Details studieren sind im Leopold zu bewundern

Vatikan ist das Leopold-Museum noch nie genannt worden“, schien selbst der Superlativen nie abgeneigte Carl Aigner, Vorstandsmitglied des Hauses und Kurator der Nitsch-Ausstellung, fast ein wenig neidisch auf die Formulierung Hermann Nitschs bei der Pressekonferenz zur Ausstellung „Strukturen“ am Donnerstag. Dessen rhetorischer Kniefall vor dem Leopold-Museum, dessen Namensgeber er „nur am Rande“ kannte, dessen Inhalt, Schiele, Klimt, Gerstl, er aber immer hoch verehrte, war allerdings kein selbstloser. Schließlich hatte ihm das Museum eine für das ephemere Thema – sein grafisches Werk – recht mächtige Ausstellung ausgerichtet. Wo? Im zweiten Untergeschoß natürlich, subkutan, im Unterbewussten sozusagen.

Dort kann man jetzt auch Nitschs architektonische Allmachtsfantasien, seine Pläne einer unterirdischen Architektur für sein Orgien-Mysterien-Theater, in all ihren wunderlichen, erschreckenden, sinnlichen Details studieren. Von Anfang an schwebte ihm als würdige Hülle für seine orgiastische Seinsparty die Anatomie eines Männerkörpers vor. Auf großen, labyrinthischen Zeichnungen legte er darin die Kulträume fest – in einer Kniescheibe befindet sich der „Raum des Tageslichts“, im rechten Auge der „Gralstempel der schönen Gerüche“, eine Fliederkammer gibt es genauso wie eine Essigkammer, einen Weinkeller und ein Nasenblutbecken.

Im Gedärm von Nitschs Architekturen

Wie in der Zeichentrickserie „Es war einmal...das Leben“ kann man sich hier gut vorstellen, wie die Blutbahnen, das Hirn, die Organe von kleinen Nitsch-Jüngern durchwimmelt werden, wie die Prozession durch die Aorta zieht, die Gedärme von Lamm und Stier im menschlichen Gedärm ausgeweidet werden, ja sogar wie menschliche Gedärme in den menschlichen Gedärmen ausgeweidet werden. Schließlich ist Nitsch hinter der doppelt und dreifach musealisierten Oberfläche nichts für Warmduscher, sein Orgien-Mysterien-Theater steht in der anarchistischen Tradition von Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“. Nitschs eigenes sadomasochistisches Abreaktionsmärchen „Die Eroberung Jerusalems“ lässt immer noch schaudern, gerade in Verbindung mit den weniger expressiven, rationaler wirkenden Architekturskizzen und den Zeichnungen, in denen im Gegenteil zu seinen (abstrakten) Schüttbildern der Mensch eine körperliche, dafür seelenlose Gestalt annimmt.

Unheimlich sind diese feinen Kugelschreiberzeichnungen, ein Hauptwerk darunter das fast vier Meter breite „Letzte Abendmahl“, eine Art Totentanz der Untoten, der Gunther von Hagens' Plastinate blass aussehen lässt. Durch ein spezielles Siebdruckverfahren wurde diese Zeichnung auch verdoppelt, wirkt vibrierend wie unter Stroboskoplicht. Dagegen sind die an Cy Twombly erinnernden Zufallskringel aus Nitschs Frühwerk eine Entspannungsübung, sie hängen in fröhlicher Gleichberechtigung neben den frühen Altmeisterzeichnungen Nitschs nach Rembrandt sowie seiner Diplomarbeit an der Grafischen von 1958: einem Bibelumschlag, der in der Farbigkeit an Herbert Boeckl, in der exaltierten Handhaltung der Christus-Figur an Egon Schiele erinnert. Eine Referenz an das Leopold-Museum. Die andere ist am Ende der Ausstellung zu finden, wo Nitschs „Asolo-Raum“, eine Art Basis-Installation aller Nitsch-Elemente von 1973, rekonstruiert wurde. Rudolf Leopold hat das wirklich besonders prächtige Schüttbild für seine zweite Sammlung angekauft. Ob man davor wirklich niederknien sollte, wie Kurator Carl Aigner im Überschwang und zu Nitschs diebischer Freude vorschlug, sollte man sich allerdings trotzdem gründlich überlegen.


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