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Kunstberichte

Das Mysterium der Wurst

Aufzählung (cai) "Tätiger Analphabetismus", das ist, wenn man die Klassiker mit dem Allerwertesten rezipiert. (Sie als Klopapier benutzt.) Und was ist "nonverbale Literaturkritik"? Schnarchen während einer Dichterlesung. Die "bibliophobische Bulimie" wiederum geht so: Man nehme ein Buch, würge es runter und stecke sich dann zwei Finger in den Rachen. (Hätt’ ich einst fast mit Stifters "Nachsommer" getan. Aus purer Verzweiflung.) Tja, Lesegewohnheiten eben.

Aber was Mary Ellen Carroll mit Laurence Sternes "Tristram Shandy" aufführt, das ist "sadomasochistische Buchrezension". Zuerst hat sie den kompletten Text abgeschrieben. Auf ein einziges Blatt. (So als würde man alle Radierungen von Rembrandt übereinanderdrucken.) Ein Jahr hat sie gebraucht. Nur um das gehaltvolle Papier nachher eh abzufackeln und mit der Asche ein schwarzes Rechteck zu malen. Ein Nachruf auf "das Buch"? Die apokalyptische Vision von einem lektürefreien Zeitalter? Freilich gibt es im "Tristram Shandy" selbst eine obskure schwarze Seite. Ein Mysterium, unergründlich wie ein Blattl Extrawurst, über das ja auch keiner so recht Bescheid weiß (was da so alles reinkommt). Übrigens hat Sterne sein Manuskript selber einmal in den Kamin geworfen, nachdem seine Freunde ihn durch "nonverbale Literaturkritik" (siehe oben) gekränkt hatten.

Mit Carrolls Kunst ist es wie mit der rosigen Wurscht: Da steckt mehr drin, als man ihr ansieht. Ein raffiniertes Spiel, wo die Grenzen zwischen Original und Imitation verschwimmen. Und zumal sich bei der Vernissage ein dunkelhäutiger Mann als die bleichgesichtige Künstlerin ausgegeben hat, leidet Letztere womöglich am Michael-Jackson-Syndrom. Michael Jackson, das ist der, der gar nicht er selbst ist, sondern von seiner Schwester Janet gedoubelt wird. (Oder doch von der rasierten Albino-Schimpansin Cheetah?)

Conans Barbar

Aufzählung (cai) Wenn Norman Bates die Stützstrümpfe seiner Mutter anzieht, ist das auch eine Liebesbezeigung. Die Fotogalerie bevorzugt aber die bekömmlichere Bussi-Hasibutz-Variante: "Liebe – Ist". H. H. Capor geht naturgemäß gleich in medias res. Was macht der Körper wohl, den man sich zum wüst ekstatischen Gesicht der Dame in Capors Fotoserie dazudenken muss? Ob der im Actionfilm "Conan lässt seinen Barbaren raus" mitspielt (bzw. in "Capor der Beglücker")? Wenn Willy Puchner Paare im Altersheim porträtiert, ist das trotzdem viel intimer. Und Fiona Rukschcios sprechendes Foto für Singles, das Kosenamen aufsagt, mag ja eine Marktlücke sein, die Ausführung ist allerdings erschreckend dilettantisch. Überhaupt wirkt vieles recht halbherzig. Die frivolen Stillleben von Brigitte Niedermair, die einen Dildo in flagranti mit einem Seidenstrumpf erwischt, sind mit ihrem sinnlichen Humor aber höchst befriedigend.

Doppelt bohrt besser

Aufzählung (cai)Das ist wie mit den Nasenlöchern, in die der Zeigefinger einfach hinein muss (der ja keine platonische Beziehung mit denen hat). Die zwei eimergroßen Vertiefungen im appetitlich glänzenden Bild von Reinhard Roy sind ja geradezu eine Aufforderung. Nämlich den Kopf reinzustecken. Vielleicht haben Anhänger des Zen genau das im Sinn, wenn sie sagen: "He, lass uns doch was zusammen unternehmen." Tandem-Kontemplation also. Das Wandobjekt mit den zwei "Kübeln" wäre ideal dafür. In Roys betörend präzisen Arbeiten dreht sich alles ums Loch. Und den Punkt, der gern in Massen auftritt, bis einem die Augen flimmern und man versucht, die gemalten Tupfen wie Mücken zu verjagen.

Galerie Hubert Winter

(Breite Gasse 17) Mary Ellen Carroll Bis 11. Oktober Di. – Fr.: 11 – 18 Uhr Sa.: 11 – 14 Uhr

Fotogalerie Wien

(Währinger Straße 59) Liebe II – Ist Bis 1. Oktober Di. – Fr.: 14 – 19 Uhr Sa.: 10 – 14 Uhr

Galerie Lindner

(Schmalzhofgasse 13/3) Reinhard Roy Bis 24. Oktober Di. – Fr.: 14 – 18 Uhr

Dienstag, 23. September 2008

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