Documenta lockte tausende Besucher zur Eröffnung.
Kritiker orten
Beliebigkeit, andere sind von Eigenständigkeit begeistert.
Kassel.
Das Rätseln über die Schau ist vorbei: Bis vergangene Woche unterlagen
die Künstlernamen noch strenger Geheimhaltung, am Samstag eröffnete der
deutsche Bundespräsident Horst Köhler schließlich die Documenta, die
weltweit wichtigste Ausstellung moderner Kunst.
Bei strahlendem Sonnenschein war das
Interesse gewaltig, Schlangen gab es aber vor keinem der fünf
Ausstellungsbauten. Menschentrauben bildeten sich nur vor wenigen
Werken wie "Floor of the Forest": Dafür hat die Amerikanerin Trisha
Brown Seile netzartig in einen Metallrahmen spannen lassen, verbunden
sind sie mit Jeans, Polohemden, T-Shirts. Einmal die Stunde steht ein
Dutzend Tänzerinnen neben dem Gestell und bewegt sich langsam und mit
ausdruckslosen Gesichtern; synchron nur zueinander, nicht zu der für
die monotonen Bewegungen viel zu fröhlichen Musik.
Dasselbe Besuchergedränge entsteht Minuten später, wenn ein paar
Tänzer auf den Seilen herumklettern und sich in das Netz legen.
"Die Wirkung ist toll. Man bekommt dadurch einen völlig neuen Blick
auf Bewegung", sagt ein Bielefelder Besucher, der seine Frau und zwei
kleine Söhne mitgebracht hat. Während der Vater sich begeistert zeigt,
sehen es die beiden Schulkinder gelassener.
"Schon irgendwie cool", sagt einer, doch interessanter scheinen ihm
elf glänzende Bronzestücke des Russen Anatoli Osmolovsky. Der hat die
Türme von elf modernen Kampfpanzern nachgebildet, um das
Avantgardistische aus den Objekten zu holen und dabei mit der Distanz
zwischen Kunst und Militär zu spielen.
USA mit Hakenkreuz
Zwei ältere Damen wirken hingegen etwas verwirrt. Extra aus
Kalifornien sind sie gekommen, um sich die Documenta und danach die
gleichzeitige Biennale in Venedig anzuschauen. Jetzt stehen sie vor
einem Bild des Chilenen Juan Davila, der zwei Männer vor einer mit
einem Hakenkreuz versehenen US-Flagge kopulieren lässt. Auch das
Christenkreuz wird zum Hakenkreuz verfremdet. "Etwas ungewöhnlich. Ich
glaube, darüber muss ich noch einmal nachdenken", sagt die eine.
Davila war am Samstag auch erster Gast im "El Bulli". Das Restaurant
an der Costa Brava gehört dem Starkoch Ferran Adria, der einer der 113
Künstler der zwölften Dokumenta ("d12") ist. Monatelang hatte die
Ankündigung, zum ersten Mal einen Koch zur Documenta einzuladen, für
Aufsehen gesorgt; monatelang hatte sich Ausstellungsmacher Roger
Buergel über Adrias Engagement in Schweigen gehüllt. Erst am Mittwoch
erklärte Buergel, der Koch werde gar nicht in Kassel präsent sein.
Stattdessen sei "El Bulli" ein "Außenstandort", jeden Tag könnten zwei
Besucher dort die experimentelle Küche Adrias erleben. Davila als
erster Gast: "Es war eine wunderbare Erfahrung."
Doch nicht nur der "Außenstandort" sorgte für Kritik. Während viele
die Konzentration Buergels auf die "Peripherie" – Südamerika, Afrika,
Asien – begrüßten, orteten andere Beliebigkeit. Die Stars seien nicht
vertreten, die Documenta sei nicht mehr die internationale Leitmesse
der modernen Kunst. "Ich habe versucht, eine Ausstellung zu machen, die
den Kern der Zeit trifft", sagt Buergel. Es gehe um komplexe
Zusammenhänge, daher der Blick auf die Länder abseits des
internationalen Kunstmarktes. Dort gebe es eine Menge unterschiedlicher
Strömungen, "mit denen wir viel zu tun haben, mit denen wir noch mehr
zu tun haben werden und von deren Kultur wir keine Ahnung haben".
Damit trifft Buergel durchaus den Nerv einiger Besucher. "Das ist
doch mal eine ganz andere Sichtweise der Welt", sagt eine Griechin.
Eine Gruppe schwedischer Besucher ist da zurückhaltender. Erschöpft
haben sie sich auf einigen der 1001 alten Holzstühle niedergelassen,
die der chinesische Künstler Ai Weiwei nebst ebenso vielen Landsleuten
mitgebracht hat. "Sehr interessant" sei die Ausstellung, "aber verwirrt
bin ich doch."
Montag, 18. Juni 2007