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Kunstberichte

Ferne Kulturen und feines Essen

Die zwölfte Documenta wurde in Kassel eröffnet – und fokussiert als weltgrößte Kunstmesse ferne Gestade
Illustration
- Seltsames Tier Kunst: Imitation von „Brownie“, die im Zuge eines israelischen Militärschlags starb.  Foto: epa/Zucchi

Seltsames Tier Kunst: Imitation von „Brownie“, die im Zuge eines israelischen Militärschlags starb. Foto: epa/Zucchi

Aufzählung Documenta lockte tausende Besucher zur Eröffnung.
Aufzählung Kritiker orten
Beliebigkeit, andere sind von Eigenständigkeit begeistert.

Kassel. Das Rätseln über die Schau ist vorbei: Bis vergangene Woche unterlagen die Künstlernamen noch strenger Geheimhaltung, am Samstag eröffnete der deutsche Bundespräsident Horst Köhler schließlich die Documenta, die weltweit wichtigste Ausstellung moderner Kunst.

Bei strahlendem Sonnenschein war das Interesse gewaltig, Schlangen gab es aber vor keinem der fünf Ausstellungsbauten. Menschentrauben bildeten sich nur vor wenigen Werken wie "Floor of the Forest": Dafür hat die Amerikanerin Trisha Brown Seile netzartig in einen Metallrahmen spannen lassen, verbunden sind sie mit Jeans, Polohemden, T-Shirts. Einmal die Stunde steht ein Dutzend Tänzerinnen neben dem Gestell und bewegt sich langsam und mit ausdruckslosen Gesichtern; synchron nur zueinander, nicht zu der für die monotonen Bewegungen viel zu fröhlichen Musik.

Dasselbe Besuchergedränge entsteht Minuten später, wenn ein paar Tänzer auf den Seilen herumklettern und sich in das Netz legen.

"Die Wirkung ist toll. Man bekommt dadurch einen völlig neuen Blick auf Bewegung", sagt ein Bielefelder Besucher, der seine Frau und zwei kleine Söhne mitgebracht hat. Während der Vater sich begeistert zeigt, sehen es die beiden Schulkinder gelassener.

"Schon irgendwie cool", sagt einer, doch interessanter scheinen ihm elf glänzende Bronzestücke des Russen Anatoli Osmolovsky. Der hat die Türme von elf modernen Kampfpanzern nachgebildet, um das Avantgardistische aus den Objekten zu holen und dabei mit der Distanz zwischen Kunst und Militär zu spielen.

USA mit Hakenkreuz

Zwei ältere Damen wirken hingegen etwas verwirrt. Extra aus Kalifornien sind sie gekommen, um sich die Documenta und danach die gleichzeitige Biennale in Venedig anzuschauen. Jetzt stehen sie vor einem Bild des Chilenen Juan Davila, der zwei Männer vor einer mit einem Hakenkreuz versehenen US-Flagge kopulieren lässt. Auch das Christenkreuz wird zum Hakenkreuz verfremdet. "Etwas ungewöhnlich. Ich glaube, darüber muss ich noch einmal nachdenken", sagt die eine.

Davila war am Samstag auch erster Gast im "El Bulli". Das Restaurant an der Costa Brava gehört dem Starkoch Ferran Adria, der einer der 113 Künstler der zwölften Dokumenta ("d12") ist. Monatelang hatte die Ankündigung, zum ersten Mal einen Koch zur Documenta einzuladen, für Aufsehen gesorgt; monatelang hatte sich Ausstellungsmacher Roger Buergel über Adrias Engagement in Schweigen gehüllt. Erst am Mittwoch erklärte Buergel, der Koch werde gar nicht in Kassel präsent sein. Stattdessen sei "El Bulli" ein "Außenstandort", jeden Tag könnten zwei Besucher dort die experimentelle Küche Adrias erleben. Davila als erster Gast: "Es war eine wunderbare Erfahrung."

Doch nicht nur der "Außenstandort" sorgte für Kritik. Während viele die Konzentration Buergels auf die "Peripherie" – Südamerika, Afrika, Asien – begrüßten, orteten andere Beliebigkeit. Die Stars seien nicht vertreten, die Documenta sei nicht mehr die internationale Leitmesse der modernen Kunst. "Ich habe versucht, eine Ausstellung zu machen, die den Kern der Zeit trifft", sagt Buergel. Es gehe um komplexe Zusammenhänge, daher der Blick auf die Länder abseits des internationalen Kunstmarktes. Dort gebe es eine Menge unterschiedlicher Strömungen, "mit denen wir viel zu tun haben, mit denen wir noch mehr zu tun haben werden und von deren Kultur wir keine Ahnung haben".

Damit trifft Buergel durchaus den Nerv einiger Besucher. "Das ist doch mal eine ganz andere Sichtweise der Welt", sagt eine Griechin. Eine Gruppe schwedischer Besucher ist da zurückhaltender. Erschöpft haben sie sich auf einigen der 1001 alten Holzstühle niedergelassen, die der chinesische Künstler Ai Weiwei nebst ebenso vielen Landsleuten mitgebracht hat. "Sehr interessant" sei die Ausstellung, "aber verwirrt bin ich doch."

Montag, 18. Juni 2007


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