Sozialhistorische Dimension der Kulturwissenschaft
Eine Sonderstellung in der europäischen Szene der Kulturwissenschafter nimmt dabei für Lethen das IFK ein, da es in der ganzen Zeit seines Bestehens an einer "sozialhistorischen Dimension" festgehalten hat. Andere größere Zentren der Kulturwissenschaft seien stark von der Medientheorie beeinflusst worden und dem Trend unterlegen, "alle sozialen Phänomene zu rhetorischen Inszenierungen zu machen", sagte der künftige Leiter des Wiener Wissenschaftskollegs und Nachfolger des Kunsthistorikers Hans Belting. So seien die Kulturwissenschaften gefährdet, keine "Wirklichkeitswissenschaft" mehr zu sein.
Dem setzt das IFK im kommenden Jahr einen neuen Forschungsschwerpunkt unter dem Titel "Kulturen der Evidenz" entgegen. So sollen die Kulturwissenschaften der kulturellen und sozialen Wirklichkeit unserer Lebenswelt wieder näherkommen. Der Begriff Evidenz ist dabei breit zu fassen - vom "plötzlichen Offenbarungserlebnis eines Theologen bis hin zu raffinierten Verfahren, mit denen der Eindruck von Authentizität hervorgerufen wird", so Lethen: "Alle Wissenschaften beanspruchen für sich, Evidenz herzustellen." Die Evidenz eines Theologen sei aber eine andere als die eines Politikwissenschafters, eines Soziologen oder eines Politikers. Vor Gericht, im Museum oder im Kabinett - "das sind ganz verschiedene Verfahren der Evidenzherstellung selbst, die aber alle den Anspruch haben, in die Wirklichkeit einzugreifen." Der Punkt des Eingriffs in die Wirklichkeit ist es, der Lethen interessiert.
Für Lethen sollten die Kulturwissenschaften unterschiedlichen Wissenschaften und ihren Forschern eine Bühne bieten, auf der sie ihre Ergebnisse austauschen können - "das ist mein Wunschtraum". In diesem Zeichen steht auch eine für 2008 geplante internationale Tagung. Experten wollen der Frage nachgehen, "wie sich eine Anthropologie sinnvoll denken lässt, die sich an den neuesten Ergebnissen der Biowissenschaften orientiert", so Lethen. Damit holt das IFK die Naturwissenschafter auf die Bühne. Denn: "Was nützt es, Bilder von der Natur des Menschen ohne empirische Grundlage zu malen?" Die große Hürde ist Lethen zufolge nur, "dass der Kontakt mit Naturwissenschaftern unglaublich schwer ist." Die Geisteswissenschafter wollten eine Zusammenarbeit, sie fänden aber nur "unheimlich wenige Naturwissenschafter, die sprachlich austauschfähig sind".
Doch Lethen übt auch Selbstkritik: "Die Kulturwissenschaften brauchen sich aber auch nicht auf ein hohes Ross zu setzen." Die alltagsfähige Austauschfähigkeit von Kulturwissenschaftern müsse noch unter Beweis gestellt werden. Die Fähigkeit des "Common Sense" fehle einem Großteil der Kulturwissenschaften - eben so, wie man große Teile der von der Medientheorie geprägten Bereiche der Kulturwissenschaften nicht verstehen würde. "Wenn die Kulturwissenschaften überhaupt den Anspruch habe, eingreifendes Wissen oder Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen, müssen sie eine alltagsfähige Sprache sprechen, sonst werden sie sich haltlos isolieren", so Lethen. (APA)