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derStandard.at | Kultur | Literatur 
20. August 2007
14:25 MESZ
Michael Köhlmeier, "Abendland". Roman. € 25,60 / 776 Seiten. Hanser, München 2007. 
Foto: Udo Leitner
Ein ganzes Jahrhundert im Buch: Michael Köhlmeier gestaltet gekonnt den Wechsel von Erzählperspektiven, vermischt Geschichten und Geschichte und stützt sich dabei auf ein solides Kulturfundament.

Gute Geschichten, denkwürdige Kreise
Michael Köhlmeiers großer Lebens- und Zeitroman umfasst das ganze "Abendland", in all seinen Varianten, in vielen politischen Wechselbädern

Wann ist eine Geschichte eine gute Geschichte?, fragt ein 95-Jähriger, verweist auf Aristoteles und antwortet: "Wenn sie gebaut ist wie das Leben." Sein eigenes Leben erzählt er im Spätwinter 2001 seinem Patenkind Sebastian, dem Sohn des einst genialen Wiener Jazzgitarristen Georg Lukasser. Der alte Kulturbürger und Professor für Mathematik an der Uni Innsbruck hatte in der Nachkriegszeit den schwierigen Musiker samt Familie unter seine Mäzenfittiche genommen. Als er sich dem Tod nahe fühlt, ruft er Sebastian, den Schriftsteller, der gerade eine Prostatakrebsoperation hinter sich hat, in seine Villa über der föhnigen Stadt: Er solle ein Buch über ihn schreiben und dazu nun seine Schilderungen aufzeichnen. Eine Geste, die ganz der Figur jenes Carl Jakob Candoris - C.J.C. kürzt der herbeizitierte Biograf in seinen Notizen anspielträchtig ab - entspricht.

So sitzen zwei körperlich schwer Angeschlagene, der ältere im Rollstuhl, der jüngere in seiner Inkontinenz, und bewegen ihre Reden durch die Zeiten. Die Geschichten bringt der Schriftsteller ein Jahr nach Carls Tod in eine Erzählordnung, in die er, der ja an diesem Leben Anteil hatte, auch seine eigenen integriert, des Vaters USA-Tournee mit Chet Baker und seinen Freitod 1976, Mutters Rückzug ins Kloster ... So erstehen zwei narrativ ausgeführte Bilanzen, eine aus des Lebens letzten Zügen und eine vom Ende der mittleren Jahre. Da beide Männer viel herumgekommen sind und Carl ein welterfahrener Zeitgenosse war, trägt der umfangreiche Roman zu Recht den Titel Abendland: Michael Köhlmeier ist ein faszinierendes, vielschichtiges Panorama des 20. Jahrhunderts gelungen; eine ganze Reihe von schillernden Protagonisten und historischen Figuren, von großen wie kleinen Ereignissen und von Seitenthemen geben seiner literarischen Epochen- und Charakterbesichtigung eine seltene Intensität.

Die Schauplätze der Geschehnisse, deren Wurzeln bis zum Ausgleich Österreich-Ungarn 1867 zurückverfolgt werden, spielen auf allen Erdteilen, vor allem in den USA und immer wieder in Wien, in Westösterreich, in Göttingen, in Lissabon, wo Carl seine Frau Margarida kennen lernt. Abendland zeigt das "Abendland" in all seinen Varianten, in vielen politischen Wechselbädern: Monarchie und Diktatur und Republik, Kirche und Agnostiker, Heiligsprechung und Suizid, Morde in Deutsch-Südwestafrika um 1900, das stalinistische Moskau, englische Geheimdienstaktionen, Oppenheimers "Manhattan Project" und die Atombombe, den Nürnberger Prozess, eine tragische New Yorker Beziehung und eine Auszeit in North Dakota, die Musikszene und die deutsche Studentenszenerie und Psychoanalytisches im Wiener Kaffeehaus ... Es geht um Liebe und Sterben, Genie und Mittelmäßigkeit, Erfolg und Verzweiflung, Geheimnis und Verrat, ja es geht um Gott und die Welt. Dazu spannt Köhlmeier effiziente Bögen, schafft einen kunstvollen Rahmen, die diesen komplexen, so packenden Roman und auch den eigenen Erzählvorgang sowie die Verknüpfung der Ebenen mitreflektieren lassen.

"Es entsprach der von Carl bevorzugten Dramaturgie, bei einer Geschichte an ihrem Ende zu beginnen und in der Erzählung nachzuholen, wie es dazu gekommen war", vermerkt Sebastian Lukasser das "Raffinement dieser Strategie". Er übernimmt sie abgewandelt für seinen Bericht, indem er zwar selten mit einem Ende beginnt, aber doch mit einem narrativen Köder, einem Angelpunkt, dem Rückblicke folgen. Die Methode verfährt mit Elementen der Erinnerung wie ein Musikstück mit seinen Themen. Carl erzähle sein Leben nicht einfach nach, er wolle es inszenieren und "die Ausgestaltung der Themen" gebe er für des Schriftstellers Improvisation frei. Zentrale Gedanken über das Gedenken macht sich Carl ausgerechnet im Zusammenhang mit Mathematik und Musik. Nach einem Buch über Kurt Gödel erklärt er, dass die Erinnerung einen "denkwürdigen Kreis" von Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft und Vorzukunft beschreibe und immer "die Reflexion des Sicherinnernden über sich selbst mit einschließt"; in ihrer puren Form finde sie sich bei Bach, "wenn er ein Thema immer wieder aufnehme und verändere". Das ist alles nicht neu, hier freilich passt es bestens zum Erzählprogramm.

Gekonnt gestaltet Köhlmeier den Wechsel der Geschichte, der Perspektiven, gibt er einmal Carl direkt von der Tonbandaufnahme wieder, lässt dann Sebastian die Darstellung in die Schreibhand nehmen. Einige Male wendet dieser sich an seinen Sohn David, den er nach einer gescheiterten Ehe fast zwanzig Jahre nicht gesehen hat - und das scheint mir der einzige unklare Aspekt der Erzählhaltung: Wenn Sebastian für David schreibt, dann ist der umständlich einsetzende Einschub "Hier nun Biografisches über die Mitglieder meiner wiederentdeckten Familie" wenig plausibel, da für David ja nicht wiederholt werden müsste, was dieser selbst vermittelt hat. Hier dreht der narrative Pakt eine falsche Runde.

Allerdings gehören Redundanzen zum Konstruktionsprinzip des Romans, der zwei Leben und viele damit zusammenhängende Geschichten baut, sich dabei auf ein bekanntes Kulturfundament stützend: Sebastians großer Bucherfolg bietet Doppelporträts von Musikern, nach dem Vorbild von Plutarch. Köhlmeier entwickelt einige solcher Parallelismen, etwa jenen der katholischen Heiligen Edith Stein, die in Abendland Carls Tanten Nachhilfestunden in Philosophie gibt und sie vor dem Selbstmord rettet, sowie der Göttinger Mathematikprofessorin Emmy Noether, die Carl, ihren ehemaligen Dissertanten, vom Selbstvorwurf, ein Mörder zu sein, befreit: Die eine repräsentiert ein romantisches Deutschland, die andere ein aufgeklärtes - und in der deutschen Wirklichkeit endet die eine in Auschwitz, die andere im US-Exil.

Wie bei diesen beiden Figuren, so vermischen sich Geschichten und Zeitgeschichte, in Kreisen um diesen mitunter exzentrischen Charakter Carl Jakob Candoris. Sebastian bringt ihm zunächst nichts als Verehrung und Rundum-Behauptungen voller "nie" und "je" entgegen, sein "Schutzengel" sei er, "der großzügigste Mensch, den ich je kennengelernt habe", in so vielem "meisterlich", der "Inbegriff der Vernunft". Differenziert findet sich dieses Bild im Laufe des Erzählens und des Gesprächs, dessen Darstellung nach einer ausgeklügelten Dramaturgie von Zeit zu Zeit die Schilderungen der Vergangenheiten unterbricht, sodass Köhlmeier sukzessive beide Hauptfiguren tiefgreifend zu gestalten vermag. Die Art, wie Carl erzählt, sein - wenn nötig - weit geschwungener Bogen, regt den Schriftsteller und die narrative Vorgangsweise des Romans an: "Nicht die Begebenheit, gleichgültig, ob schwerwiegend oder nebensächlich", entscheide über "Tiefe und Weite des Raumes in der Vergangenheit, der erzählend mit Sinn erfüllt wird, sondern die Frage, wie viele andere Begebenheiten, also: wie viel Welt diese eine Begebenheit unter ihr Diktat zwingt."(Klaus Zeyringer, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 18./19.08.2007)


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