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31. August 2002,  02:12, Neue Zürcher Zeitung

Wissensproduktion als Teil der Ausstellungspraxis

Wie sich die Documenta 11 wieder politische Prägnanz angeeignet hat

Die Documenta 11 schliesst in wenigen Tagen ihre Tore. Die Themen, die sie angeschnitten hat, werden aber weiterhin für Diskussionen sorgen. In Kassel wurde während dieser hundert Tage ein Feld des Politischen entworfen, in dem sich verschiedene Positionen und Artikulationsformen zeigen konnten.

Von Kurt Kladler

Die Documenta ist mittlerweile nicht nur eine der populärsten Grossausstellungen, sie wurde seit ihrer Gründung 1955 auch nach und nach zu einem Markenartikel, zu einer Institution mit beachtlicher Definitionsmacht. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass nicht nur das derzeitige Ausstellungsgrossereignis mit Beiträgen von über 100 Künstlern in den Fokus der kunstinteressierten Öffentlichkeit tritt. Auch die Institution selbst wurde, wie in den Jahren zuvor, zum Inhalt engagiert ausgetragener Kontroversen. Diese breit gefächerten Diskussionen in den Medien sind ein wesentlicher Teil des Documenta-Geschehens, da nicht nur der Stellenwert der internationalen Gegenwartskunst erörtert, sondern auch das Verfahren der Auswahl der Künstler und die stringente Umsetzung des jeweiligen kuratorischen Konzepts nachhaltig kommentiert werden. Fragen nach der Verquickung von ökonomischen und kulturpolitischen Interessen oder nach dem Sinn eines derartigen Theorie- und Kunstspektakels kehren mit der Regelmässigkeit der Eröffnungen wieder und verlangen nach jeweils neuen, immer wieder aktuellen Antworten. Die Documenta wird dadurch jedes Mal neu erfunden, und das öffentliche Nachdenken über den Status, die Möglichkeiten und die Inhalte von Gegenwartskunst ist die Quelle ihrer kreativen Selbsterneuerung. Auch wenn mit diesem Gedanken der schillerndste Webfaden im Mythos der Documenta benannt ist, wird in ihrer reflexiven Praxis deutlich, dass Kunst nicht nur das ist, was Künstler machen, sondern auch eine Funktion der Institutionen und des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem ihr Bedeutung zuerkannt wird.

Dennoch: Für die Mehrzahl der kunstinteressierten Besucher ist die Ausstellung in Kassel die eigentliche Documenta, und auch kurz vor dem Ende der jüngsten Ausgabe wird es in den Gängen und Korridoren des Fridericianums in Kassel bisweilen wohl wieder sehr eng werden. Dabei war nach der Emphase der Eröffnung eher Skepsis zu vernehmen. Okwui Enwezor sei mit seinem Team von Co-Kuratoren eine grosse Ausstellung gelungen, hiess es - vielleicht ist sie ihm aber zu sehr gelungen, lautete regelmässig der Nachsatz. Der belgische Kunst-Impresario Jan Hoet, Direktor der Documenta 9 (1992), vermisste bei der Documenta^11 das herausfordernde Risiko, und Harald Szeemann fühlte sich, nach seinen Eindrücken der gegenwärtigen Schau befragt, an ein amerikanisches Universitätsmuseum erinnert.

Szeemann selbst stand 1972 durchaus unter vergleichbarem Erwartungsdruck, nachdem seine Generalprobe zur Documenta 5, die Ausstellung «happening und fluxus» im Kölnischen Kunstverein, die damalige Kunstwelt in helle Aufregung versetzt hatte. Die herausfordernde Debatte nötigte ihn sogar, seine ursprüngliche Konzeption einer ereignisorientierten Documenta zu modifizieren und unter dem Schutz der neuen Parole - «Die Kunst kehrt zu sich selbst zurück!» - das riskante Abenteuer seiner Ausstellung zu wagen. Szeemann schien also den teilweise tumultuösen Debatten die Angriffsfläche dadurch entziehen zu wollen, dass er die Kunst aus der Sphäre des Politischen an ihren vermeintlichen Ort im «Museum der hundert Tage» (Arnold Bode) rückte.

BEIPROGRAMM ZU GARTENSCHAU

Aus heutiger Sicht lässt sich der polemische Kern dieses subtilen Manövers klarer erkennen, und es zeigt, wie im Streit um den Status der Kunst gesellschaftspolitische Themen öffentlich verhandelt wurden. Dass die Institution der Documenta selbst zum Medium dieser Auseinandersetzungen werden konnte und die Belange der Kunst gleich lautend mit politischen Implikationen sind, liegt in der einzigartigen Geschichte der Documenta begründet. Sie wurde 1955 als Beiprogramm zu einer bundesdeutschen Gartenschau konzipiert und vom Kasseler Maler und Akademieprofessor Arnold Bode in Zusammenarbeit mit dem Kunsthistoriker Werner Haftmann zu einem herausragenden Ausstellungsereignis geformt. Sie war nicht nur für einen erlauchten Kreis von Kunstinteressierten gedacht, sie musste auch für die Besucher der Gartenschau funktionieren. Eben deshalb sollte die Kunst aus sich heraus überzeugen, frisch sein, begeistern und in keiner Weise an Bildungsnachmittage in herkömmlichen Museen erinnern. Die Bilder und Skulpturen wurden während der ersten Documenta im notdürftig renovierten Museum Fridericianum regelrecht in Szene gesetzt. Auf dünnen Stäben von Baustahl schwebten Meisterwerke von Seurat, Picasso, Klee, van Gogh und Munch vor ärmlichen Ziegelmauern und neuartigen Vorhängen aus Plastic. Die inszenierte Anmutung existenzieller Kargheit, mitten im Provisorium der weiss gekalkten Museumsruine, war an Symbolkraft kaum zu überbieten. Der Blick nach vorne und die Aneignung der Kunstgeschichte aus der Gegenwart heraus waren entscheidende Weichenstellungen für den überraschenden Erfolg der Documenta. Die symbolische Politik der Kunstschau entsprach dem damals neu formierten Selbstverständnis vieler Bürger der jungen Bundesrepublik, die ihr Selbstbewusstsein nicht mehr mit Schuld unterfüttern wollten.

Während die Kulturnationen des Kontinents über die Trümmer des Zweiten Weltkrieges hinweg noch auf der Suche nach ihren vormaligen kulturellen Identitäten waren, konnte die Documenta mit dem Anspruch einer «Weltkunstausstellung» punkten, die radikal auf die durch Kunst vermittelte Zeitgenossenschaft hin orientiert war. Obgleich die Menschen damals in einer geteilten Welt und in Ländern lebten, die ohne Bedenken einer Ersten, Zweiten oder Dritten Welt zugerechnet wurden, war der Begriff der «Welt» im Zusammenhang mit Kunst kaum fraglich: Stillschweigend und selbstverständlich war die «westliche Welt» gemeint. Die Freiheit der Kunst war die Freiheit der Künstler in westlich orientierten Wertegemeinschaften. Mit ihren Werken waren sie in erster Linie nur der eigenen künstlerischen Redlichkeit verpflichtet, und es schien fraglich, ob kulturelle Produktionen, die unter anderen Prämissen entstehen, überhaupt als Kunst der Gegenwart anzusprechen sind.

KÜNSTLER ALS POLITAKTEURE

In dem Moment, als die Kunst an der Documenta 5 zu sich selbst und an den Ort des temporären Weltkunstzentrums Kassel zurückkehren sollte, war dieser Ort bereits von Positionierungskämpfen zerfurcht, hatten sich die Künstler bereits formiert und ihren Zutritt erkämpft. Sie waren zwar nicht mehr die privilegierten Schöpfer von Bildwelten, sie traten aber vielfach selbst als politische Akteure auf. Dabei schien das Politische der Kunst eng an die Status-Autorität der Künstler geknüpft. Stillschweigend wurde dabei vorausgesetzt, dass sie die damit verbundenen Ansprüche repräsentieren können und über ein besonderes Mandat verfügen.

Es bedurfte etlicher Abschwünge und einiger dialektischer Gegenbewegungen in der Geschichte der Documenta, um das Politische wieder klarer konturieren zu können, ohne es mit politisch agierenden Künstlern oder «politischer Kunst» gleichsetzen zu müssen. Die Französin Catherine David gestaltete als Leiterin der «documenta X» 1997 nicht nur eine Ausstellung. Sie versuchte auch den politischen Kontext für die Interpretation künstlerischer Tätigkeiten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in die Kunstschau zu integrieren. Auch wenn die «documenta X» als unterkühlt und theoriebefrachtet charakterisiert wurde, liess sie doch erkennen, dass die Kunst auch eine Funktion der jeweils historisch geformten Bedingungen ihrer Produktion ist. Die Kunstwerke, ihre Wertschätzung und die Begriffsraster, in denen sie Bedeutung erhalten, sind deshalb relativ zu anderen Gesellschaften. Erst auf dieser Erkenntnis aufbauend, ist es sinnvoll, von einem «westlichen Kunstbegriff» zu sprechen - ohne gleich einen anderen behaupten zu müssen, da die dominanten Strukturen auch die Bedingungen definieren, unter denen das Andere wahrgenommen wird. Dieser Sachverhalt war dann auch der schwankende Boden, auf dem sich der nachfolgende Leiter der Documenta bewegen musste.

Nach Catherine David wurde Okwui Enwezor zum Direktor der Documenta bestellt. Der gebürtige Nigerianer hatte als Kurator der 2. Biennale von Johannesburg (1997), durch seine zahlreichen Beiträge zur zeitgenössischen afrikanischen Kunst und zu Fragen der Globalisierung internationale Aufmerksamkeit erregt. Er schien geradezu der perfekte Spezialist für jenes Andere zu sein, das an der vorigen Documenta vorwiegend durch Diskurse repräsentiert wurde. Es blieb demnach zu erwarten, dass Enwezor vor dem Hintergrund seiner Herkunft und der bisherigen Aktivitäten eine Ausstellung gestalten würde, die einerseits eine deutliche Positionierung im bunten Getriebe des Kunstbetriebes ermöglicht und andererseits jene Sphären kultureller Produktion sichtbar macht, die durch die Hegemonie der westlich geprägten Kunstwelten in randständige Positionen gedrängt werden. Diese Erwartungshaltung begleitet ihn bis zum heutigen Tag und kommt in den häufigen Fragen der Ausstellungsbesucher zum Vorschein, die an der Documenta in Kassel jene Kunst sehen wollen, die tatsächlich von Künstlern stammt, die in Afrika oder Asien geboren wurden und dort auch leben.

Okwui Enwezor überraschte deshalb zum Beginn seiner Tätigkeit mit programmatischen Entscheidungen, die direkt das Format der Ausstellung und die Struktur der Institution Documenta betrafen. Er wies die ihm in der Öffentlichkeit zugewiesene Rolle zurück, die ihn durch seine Herkunft zur Vermittlung dominierter künstlerischer Positionen legitimieren sollte. Diese Geste, sein Mandat anders zu definieren, war eine signifikante Weichenstellung. Er versuchte explizit, nicht zum Vertreter einer interessierten und offenen Kunstwelt zu werden, für die er neue Bereiche erschliesst und in deren Sphäre er Produkte ausstellt, die als Kunst klassifiziert werden oder die den Kunstbegriff zu bereichern und zu verändern in der Lage sind.

Enwezor kehrte diesen Prozess geradewegs um. Er etablierte mit seinem Team von Co-Kuratoren eine Abfolge von Wissenskonferenzen, die er «Plattformen» nannte, und verschob den Schwerpunkt des temporären Weltzentrums der Kunst an Orte ausserhalb von Kassel. Gleichzeitig wurde in Kassel eine eigene Abteilung installiert, die unter dem Titel «Education Project» für die qualifizierte Ausbildung der künftigen Kunstvermittler an der Kasseler Documenta-Ausstellung verantwortlich war. Dabei wurden nicht nur klassifizierende oder allein biographisch orientierte Methoden der Vermittlung vorgestellt, sondern auch spezifische Ansätze der Kulturkritik und eine kritische Archäologie der Institution Documenta erarbeitet. Im Rahmen dieser Abteilung war auch ein weiteres Projekt, «thinking and doing Documenta^11», angesiedelt. Es handelte sich dabei um ein öffentliches Forum, in dem zentrale Fragestellungen der auf den fünf Plattformen diskutierten Themenkomplexe erörtert und konzeptionelle und organisatorische Prozesse der Documenta^11 transparent gemacht werden sollten. Eine weitere Ausbildungsebene war ebenfalls in diese Abteilung integriert. Neun Stipendiaten aus Ost- und Westeuropa, Asien, Lateinamerika und den USA hatten die Möglichkeit, im Rahmen der Documenta mit Enwezor und seinem Team zusammenzuarbeiten, um künstlerische und kuratorische Arbeitsweisen kennen zu lernen und in eigenen Projekten umzusetzen.

WACHES BEWUSSTSEIN

Okwui Enwezor gab der Wissensproduktion einen eigenen Status, indem er sie als Praxisform zum integralen Bestandteil der Documenta^11 machte und dadurch auch in das Gefüge von Hierarchien eingriff, die das Verhältnis von Wissensproduktion und Kunst regeln. Anfänglich schien es fast so zu sein, als würde dieses Verhältnis verkehrt, die Kunst nun an die zweite Stelle gerückt und die Künstlerinnen und Künstler im Schauspiel der Diskurse in die Rollen von Statisten gedrängt. Die Ausstellung in Kassel hat diese Bedenken zerstreut, und die sogenannte Plattform 5 wurde wohl auch deshalb als gelungenes Kunstereignis wahrgenommen. Das wache Bewusstsein für Fragen der Hierarchien und der symbolischen Politik von strukturellen Entscheidungen war eine der wesentlichen Qualitäten dieser Documenta. Darin lässt sich auch die massgebliche politische Dimension verorten, die durchaus kontroverse Reaktionen bewirkte. Enwezor wurde zum Vorwurf gemacht, dass sein Begriff des Politischen zu porös sei und an die Ideale der Entwicklungspolitik erinnere. Positiv wurde vermerkt, dass er durch seine Tätigkeit und die Vervielfachung der Arbeits- und Ausstellungsformate bei zahlreichen Eliten der Wissensproduktion ausserhalb des Kunstbetriebes ein offensives Modell der Documenta etablieren konnte. Der Transfer von Informationen erfolgte demnach in verschiedene Richtungen, und Enwezor blieb dabei in seiner Rolle als Leiter der Documenta ein Vertreter der urbanen Kunstwelten westlicher Prägung.

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie zeigt sich darin deutlich das Dilemma der Wiederaneignung und Vermittlung von dominierten oder randständigen Positionen in unterschiedlichen Kunstwelten. Die Documenta^11 wurde deshalb zum Erprobungsfeld künstlerischer und intellektueller Praktiken, aber auch zum Medium einer symbolischen Politik, die in der strukturellen Formung der Institution Documenta ihren konkreten Ausdruck fand. Die Loslösung von einem einzigen Zentrum, die zeitliche Ausweitung des Documenta-Geschehens und die reflektierte Begleitung der Arbeitsprozesse sind Entscheidungen, deren Gewicht und politische Dimension leicht übersehen und als politisch korrektes Handeln interpretiert werden. Im Rückblick auf die zwei Jahre des «Projekts Documenta^11» zeigt sich darin aber eine grundlegendere Entscheidung. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass unser Agieren als politische Subjekte auch eine Funktion der Gesellschaftsarbeit ist, die durch Institutionen ermöglicht wird. Die aktive Arbeit mit der Institution Documenta als einem disponiblen Material und die Adaptierung zentraler Grundprämissen erscheinen in diesem Zusammenhang als die aktive Wiederaneignung der politischen Prägnanz des Unternehmens. Die Institution wird nicht nur zum Vehikel der Realisation einer Ausstellung, sondern ist selbst Produkt und Medium eines politisch motivierten Gestaltungsprozesses.

 
 
 

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