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Kunsthalle Wien: Detroit im Städteportrait

17.04.2010 | 19:24 | Almuth Spiegler (Die Presse)

Die Hälfte der Einwohner ist abgewandert, 7000 Häuser stehen leer, 26 pro Tag werden niedergebrannt: Detroit, eine Stadt im Verfall. Was Künstler magisch anzieht.

Eine Reise durch urbane Landwirtschaft, auf die Dächer von historischen Autofabriken und hinter die soziale Grenze von "8 Mile". Ab Dienstag wird auch der Wiener Karlsplatz ein Stück "Motor City". Die "Kunsthalle Wien" zeigt ab 27. April ein künstlerisches Städteporträt.

Stahlbeton, Stahlbeton, Stahlbeton . . . Auch dieses Mantra half nicht viel, während wir über Scherben stiegen, die Treppe ohne Geländer Stockwerk für Stockwerk hinaufkletterten, lieber näher an der Wand als am Abgrund, und immer wieder einen Blick auf partiell eingestürzte Decken in den Geschoßen erhaschten, die eher wie riesige verlassene Parkdecks aussahen denn wie ein Architekturmonument. Die Packard-Luxusauto-Fabrik war 1907 der erste große Bau des deutschstämmigen Architekten Albert Kahn in Detroit. Und der Erste, in dem er das neue Material Stahlbeton verwendete. Weshalb das aus 75 Gebäuden bestehende Gelände wohl trotz 50-jährigen Verfalls heute immer noch (großteils) trittsicher ist. Scheint es zumindest.

Aber was tut man nicht alles für die Kunst, selbst die leise über das Gerümpel im Vorhof anrollende Gang im schwarzglänzenden SUV kann uns nicht von der Exkursion aufs Dach der Fabrik abhalten – dank des Verhandlungsgeschicks des Detroiter Künstlers Scott Hockings, der das bald einsetzende Retro-Mafia-Feeling seiner Wiener Gäste nur belächeln kann. Das devastierte postindustrielle Niemandsland ist sein tägliches Lebens- und Arbeitsumfeld. Die Ruinen der ehemaligen „Motor City“ Detroit dienen ihm als Materialfundus für seine Objekte, als Kulissen für seine temporären Installationen, die er dann fotografiert.

So sammelt er etwa flunderflache betongraue Tropfsteine, die der durch die Betondecken sickernde Regen in den Hallen bildet. Oder baut sein persönliches Pantheon, seinen „Göttergarten“ über Detroits Dächern, im obersten Geschoß der alten Packard-Fabrik. Wo die massiven Rundpfeiler schon längst keine Last mehr tragen, wo sie frei stehen oder gestürzt liegen, müde Kolosse. Auf diese Überreste einer historischen Industriehochkultur stellte Hockings deren hohle Götzen, deren Säulenheilige: alte TV-Geräte, die er im Schrott fand. Und den gibt es in Detroit zuhauf.

Brandruinen am Boulevard. Der Kalauer „Destroit“ geht einem nicht aus dem Kopf, sich die wüsten Treppen des einstigen Vorzeigebetriebs hinuntertastend, den „East Grand Boulevard“ entlangfahrend, der seinem Namen Hohn spricht: Vorbei an sichtlich verlassenen Familienheimen, 7000 Häuser stehen leer in Detroit. Vorbei an Brandruinen – durchschnittlich 26 Häuser pro Tag werden abgefackelt, teils um an die Versicherungssumme zu kommen. Vorbei an Baulücken, die immer mehr werden, bis man mitten im Stadtgebiet in einer Art Heide landet.

Einst war hier dichtes Wohngebiet. Doch Detroit verwildert mit jeder Krise mehr, wie die niederländische Künstlerin Corine Vermeulen dokumentiert: Die Leute legen sich Gemüsefelder und Traktoren zu, Fasane, Gänse, Füchse, Kojoten streifen durch die Stadt, streunende Hunde bilden sich wieder zu Rudeln und gehen auf (Menschen-) Jagd. Seit den 40er-, 50er-Jahren hat die damals viertgrößte Metropole der USA, die brodelnde, tausende Immigranten anziehende Boomtown der „großen Drei“ (Ford, General Motors, Chrysler), die Hälfte seiner Bewohner verloren. Statt 1,8 Millionen sind es heute nur mehr rund 900.000. Über 80 Prozent davon sind Afroamerikaner, aber es leben auch die größten Gemeinschaften von Bulgaren, Assyrern und Arabern in den Vereinigten Staaten hier.

Und immer mehr Künstler. Zuletzt streifte Matthew Barney mit seinem Team durch die Straßen, um einen Film vorzubereiten. Die Sondersituation der Stadt scheint Künstler anzuziehen, hier bieten sich räumlich und gedanklich Gelegenheiten, Freiheiten, die sonst unleistbar, undenkbar wären. Sei es, dass ein Künstlerpaar seine geplünderte Nachbarschaft mit Solarenergie wieder aufrüstet und zur Künstlerkolonie umwidmet. Sei es, dass die Künstlergruppe „Object Orange“ zum Abriss (Demolition) von der Stadtverwaltung mit „D“ markierte Häuser neonorange anmalt und so alltägliches Elend wieder sichtbar macht. Oder sei es, dass eine Gruppe Hobbykünstler ihr Wohngelände in jahrelanger Arbeit in einen morbiden Halloween-Themenpark verwandelt, der einmal im Jahr zum Festivalgelände wird.
sDie wenig verlockenden Umstände scheinen viele Künstler geradezu zum Schaffen von Gegenwelten herauszufordern: Ein alter ukrainischer Künstler hat Haus und Hintergarten in ein skurriles knallbuntes Selbstbau-Disneyland mit hölzernen Windrädern, Karusselpferdchen und Plastikrosen verwandelt.

Kuscheltiere an Fassade. Tyree Guyton hat sich gleich die ganze Straße seiner Kindheit, die Heidelberg Street, angeeignet: Seit 1986 baut er hier an seinem Gesamtkunstwerk, bemalt die verlassenen Häuser bunt, baut aus Plastiksesseln, alten Telefonen, Staubsaugern und anderem Gerümpel gesellschaftskritische Outdoor-Objekte, nagelt einen ganzen Kuscheltierfriedhof an eine Fassade. Doch als eskapistisches Vergnügen darf man das keineswegs abtun, die Detroiter Künstler denken verstärkt sozial, es geht immer auch um die Aufwertung und Bewahrung der Heimat.

Auch Jef Bourgeau wollte seiner Stadt Pontiac, etwas außerhalb von Detroit, erst einmal ein eigenes Museum verschaffen. Dann erst verfiel er darauf, alle Künstler, die hier ausstellen, einfach selbst zu erfinden – ihre Bios, ihre Werke, Kataloge, Artikel über sie, von Ford Wallace Ford bis Missy Wiggins.

Wiener Werkstätte in Detroit. Außerhalb von Detroit findet man auch noch eine Perle des Art déco, die Cranbrook-Kunstakademie. Den ganzen Campus hat der finnische Designer Eliel Saarinen in den späten 1920er-Jahren gestaltet. Herzstück ist das Wohnhaus des Direktors, der er selbst damals war, heute ein Museum – in dem man auf die Spur einer alten Bekannten trifft, auf eine Keramikfigur der Wiener-Werkstätten-Künstlerin Valie Wieselthier.
Doch zurück in Detroits Zentrum, das heute eigentlich die Peripherie ist. Denn nach den Rassenunruhen 1967 begann die Stadtflucht, zog sich die weiße Mittelklasse hinter die berühmte 8-Mile-Grenze zurück. Der gleichnamige Film mit Rapper Eminem machte diese Straße berühmt, sie ist Synonym für das gesellschaftliche Klassensystem, das immer noch herrscht. 99 Prozent der Bewohner der Vororte sind weiß, je weiter man sich vom ausgestorbenen Zentrum entfernt, um so nobler wird die Gegend, die groß ausgebauten Schnellstraßen erleichtern dieses Pendlersystem.

Nur mehr wenig erinnert in der historischen Innenstadt an die goldenen Zeiten. Ein „People Mover“, eine öffentliche Hochbahn, zieht ihre Kreise in einigen Metern Höhe vorbei an den Wolkenkratzern, dem Wahrzeichen der Stadt, den blau glänzenden Türmen des Renaissance Centers aus den 70er-Jahren, in das die General-Motors-Zentrale eingezogen ist. Das neue, mit Plastiktigern geschmückte Baseball-Stadion der „Detroit Tigers“ mitten im Stadtverbau – ein Schachzug der Politik, um das Zentrum zu beleben. Von mehr Klasse erzählt das „Guardian Building“, einer der schönsten Art-déco-Wolkenkratzer der Welt, mit orientalisch anmutenden Fliesenornamenten in der riesigen Eingangshalle.

Auch Le Corbusier hat hier gebaut, ein Konglomerat aus Pavillons und Hochhäusern, heute ein Weißen-Ghetto. Wie das „Detroit Institute of Art“, das zu den führenden Museen in den Staaten gehört, in der Stadt selbst aber wie ein Fremdkörper wirkt. Hier hat der kommunistische Maler Diego Rivera einst im Auftrag der Oberkapitalisten, der Familie Ford, ein Wandbild gemalt: ein Hohelied auf die blühende Autoindustrie. Auch Riveras Frau, Frida Kahlo, lernte Detroit kennen. Von der weniger schönen Seite, sie hatte im Henry-Ford-Spital eine Fehlgeburt, die sie zu einem ihrer ersten intensiven Selbstporträts anregte.

Nach Detroit – Beirut. Neben dem Ende der 50er-Jahre in Detroit erfundenen „Motown-Sound“, neben Popstars wie Madonna kommen auch einige Stars der Kunstszene aus Detroit – Mike Kelley etwa. Oder Ellen Cantor. Es ist also kein Zufall, dass die „Kunsthalle Wien“ gerade Detroit zum Auftakt ihrer am Dienstag startenden Reihe über Städte im Umbruch präsentiert. Es sind dichte Gruppenausstellungen an dem Ort von Wien, der am meisten an Detroit erinnert, dem Karlsplatz. Es folgen Beirut, Lagos und Saigon.


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