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Der Minuten-Mann

Eigentlich war die Sache ausgemacht. Die Band sollte dem Künstler ein Honorar bezahlen, dafür würde sie eine von dessen Arbeiten für das Cover ihrer neuen CD verwenden dürfen. Auf dem Umschlag der eben erschienenen Maxi-Auskoppelung der deutschen Popgruppe "Echt" sieht man einen Menschen, der seinen Kopf in eine Mauer steckt. Ein Foto des österreichischen Künstlers Erwin Wurm. So weit alles wie vereinbart.

Dann aber schaute Erwin Wurm kurz vor Weihnachten fern und sah auf MTV das Video "stehen geblieben" von Echt: Der größte Teil des Clips war ein einziger Ideenklau von anderen Arbeiten Wurms.

"Ich weiß, dass der Produzent eine Menge Geld damit verdient hat", meint der Künstler. Jetzt hat er der deutschen Plattenfirma, die zum Major-Label Universal gehört, mit einer Klage gedroht, falls nicht zumindest die Künstlercredits angegeben würden.

Extrem

Erwin Wurm hantiert in seinem großen Atelier in einem umgebauten ehemaligen Gewerbebetrieb in Wiens 22. Bezirk, mitten in der neuen Hochhaus-City jenseits der Donau. Eine Art dezente Landhaus-Atmosphäre hat hier den Vorstadtblues von Kagran verdrängt. "Einerseits", meint er, "freue ich mich, dass meine Arbeiten so gut aufgenommen und nachgestellt werden. Andererseits handelt es sich hier um Eins-zu-eins-Kopien meiner Ideen, und da geht es um einfache Fragen des Copyrights."

Es ist nicht das erste Mal, dass Erwin Wurm mit derartigen Plagiatsproblemen zu tun hat. Schon die HipHop-Sängerin Macy Gray hat sich für einen Videoclip einige Minuten-Stellungen bei Wurm abgeguckt, und die Modebranche bedient sich für ihre Fotoinszenierungen der prägnanten Motive aus Wurms Ideenkiste: Firmen wie GAP und Modedesigner wie Jean-Paul Gaultier oder Nina Ricci. Der Automobilkonzern VW hat sich gerade die Rechte an der Minuten-Skulptur "Gurkerln zwischen den Zehen" gesichert.

Filmdosen auf den Augen, mit Melonen beladen am Boden liegen, Liegestützen auf vier umgedrehten Tassen: Sechzig Sekunden in der Position stillgehalten, dann wird fotografiert, und fertig ist die Minuten-Skulptur, Lächerlichsein und Peinlichkeiten inkludiert. Dass gerade die PR- und Werbeindustrie auf Wurms Miniaturen so anspricht, lässt sich aus dem Medium einfach erklären. Es handelt sich um originelle Ideen, die leicht umgesetzt werden können und einen hohen Wiedererkennungseffekt haben. Darüber hinaus transportieren diese Skulpturen subliminale Botschaften aus dem Reich des Unterbewussten: "Psycho-Skulpturen" hat sie eine französische Kritikerin genannt. Ganz klar sind da Anspielungen an Themen wie Zwanghaftigkeit, Freiheit oder Sexualität erkennbar, aber es bleibt immer auch ein absurdes Moment übrig. Warum man sich in solche Extremsituationen begibt, ist selbst Erwin Wurm nicht ganz erklärlich. "Die Leute suchen sich ihre Positionen so aus", meint er dazu. Offenbar spiegelt sich hier ein massives menschliches Bedürfnis, in ritualisierten Abläufen aus sich herauszutreten und die trübe Alltagsexistenz auszublenden: Eskapismus für eine Minute.

Voluminös

Im Kontext von Erwin Wurms Kunst stellen die One Minute Sculptures eine logische Entwicklung dar. Bereits Ende der achtziger Jahre suchte Wurm, der 1954 in der Steiermark geboren wurde, eine Erweiterung des traditionellen Bildhauereibegriffes. "Was ist eine Skulptur, und in welchem Moment kippt die Statik in eine Aktion?", fragte er. Erwin Wurm sieht seine Tätigkeit noch immer als eine "Arbeit am Volumen" und hat beispielsweise auch das "Zunehmen als plastischen Prozess" thematisiert, indem Gewichtszulegen durch Überziehen von unzähligen Kleiderschichten simuliert wurde.

Nun wird in Graz auch Wurms "Fat Car" zu sehen sein: ein mit mehreren Kunststoffschichten überzogenes Auto, das auf eine Breite von 2,65 Metern angewachsen ist. Für den Transport aus Genf, wo das dicke Auto bis jetzt stand, brauchte es Spezialkonstruktionen, die über 7200 Euro kosteten - der Sponsor war rasch gefunden. "Wenn jemand etwas will", so Wurm, "dann geht alles." Manche wollen offenbar besonders viel: So hat sich kürzlich ein amerikanischer Sammler bei Erwin Wurm gemeldet, der seinen praktisch neuen nachtblauen Rolls-Royce in ein Fat Car umgewandelt haben will.

Erwin Wurm ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten und momentan erfolgreichsten Gegenwartskünstler Österreichs, wobei er in Ländern wie Frankreich oder England bekannter ist als in seinem Heimatland. Seine One Minute Sculptures sind als Fotos bereits 350-mal verkauft worden - zu sechsstelligen Schillingbeträgen. "Ich kann seit zwanzig Jahren von meiner Kunst leben", meint Wurm mit einiger Untertreibung: "Es geht mir gut."


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