Am 20. Jänner feiert der heilige Sebastian Namenstag. Und wie
jedes Jahr werden die Bewunderer des Schmerzensmannes nach Rom pilgern, um
ihm zu huldigen.
Der Heilige erscheint in vielerlei Gestalt: Sebastian als
ekstatischer Masochist, lustvoll den Pfeilregen empfangend; als tugendhaft
verklärter Nazarenerjüngling mit einer Haut, so weiß wie die Unschuld
selbst; als anämischer Leidensmann im photorealistischen Stil; als
willkommene Beute einer lieblichen akademischen Aktpinselei aus dem
19. Jahrhundert.
Der heilige Sebastian - eine polymorphe Projektion
menschlicher Obsessionen und Laster, die, von Guido Reni bis Julian
Schnabel, eine Spur des Schmerzes durch Jahrhunderte der Kunstgeschichte
zieht. Und auch heute noch Objekt des Voyeurismus und der Identifikation
von Leuten, die einen ästhetisch Vollendeten benötigen, um ihren Weltekel
zu transzendieren.
Pension Fraschetti, Privatzimmer, Frühstück exklusive.
Doppelbett mit Zusatzpritsche, Via Ottaviano, in Sichtweite des Vatikans.
Hier darf im Vorzimmer Sebastian als Pin-up-Figur zwischen einer Madonna
dolorosa in Porzellan und einer Postkarte, die das Konterfei des Papstes
zeigt, sein Lied vom Leid singen. An ihm geht keiner vorüber, ohne den
Blick zu heben und innezuhalten. Im Unterbewußtsein nisten sich Geschichte
und Geschichten ein: etwa die Erinnerung an den japanischen Überästheten
Yukio Mishima, der vor Renis Sebastian sein Coming-out erlebte und nach
dem Platzen seiner faschistischen Träume Seppuku beging, um seinem Idol
endgültig nachzufolgen; oder an Salvador Dalí, der "seinen" Sebastian in
"Italien am Ende eines schwarz-weiß mit Marmor gelegten Treppenaufganges"
fand und seine Briefe an Lorca mit "San Sebastian" unterschrieb.
Die Pension Fraschetti mit ihrer säuerlichen Atmosphäre
aus Devotionalienkitsch und gesunder Hypokrisie kann ein Basislager sein,
um ins Innere des Sebastian-Mythos einzusteigen - so gut wie jeder andere
Ort. Denn der Heilige läßt sich nicht geographisch festbinden, er lebt in
uns, als hysterische Seelenwallung im Banne einer Figur "zwischen
Säkularisierung des Heiligen und Sakralisierung des Profanen", wie es
Heusinger
von Waldeck einmal ausgedrückt hat.
Wenn wir uns, in der Früh von der Via Ottaviano 16
aufbrechend, in einem Dérive durch die Straßen und Randbezirke Roms
verschwenden, dann suchen wir zwar nach Zeichen und Erscheinungen, die uns
von der realen Präsenz des heiligen Sebastian im Spiegel seiner Abbilder
künden, aber auch nach jenem "exemplarisch Leidenden", der er, nach Susan
In den Katakomben unter der Basilica di San Sebastiano verdichtet sich
die Grausamkeit der frühchristlichen Jahrhunderte in einer gestauten
Luftsäule.
Sontag, im halluzinatorischen Imaginarium der Kunst
geworden ist.
Wir betreten durch die Basilica di San Sebastiano an der
Via Appia Antica die Katakomben, in denen sich die Grausamkeit der
frühchristlichen Jahrhunderte in einer gestauten Luftsäule zu verdichten
scheint, und wir denken daran, daß Sebastianspfeile als Schutz vor der
Pest getragen wurden. Wir gehen weiter zur Kirche San Sebastiano, lassen
uns von der im Halbdunkel hingestreckten Giorgetti-Statue berauschen, die
dämonische Schatten wirft wie ein Artefakt aus dem Kabinett des
Dr. Caligari. Wir sind nicht allein: Um den 20. Jänner treffen
die Connaisseure aus den unterschiedlichsten Provinzen des Begehrens ein,
werfen sich verschwörerische Blicke zu und lesen sich mit gedämpfter
Stimme die geheiligten Worte des Malers Odilon Redon zu: "Der Künstler
unterscheidet sich vom Dilettanten durch die Schmerzen, die er empfindet.
Wer leidet, wird erhöht. Schlagt. Schlagt immer zu. Die Wunde wird
fruchtbar."
Auf den Traumpfaden einer ungestillten Sehnsucht sieht
man bleiche junge Männer amalfitanischer Adelsherkunft, britische
Exzentriker, wie die beiden Décadents Medlar Ducan und Durian Grey, und
spanische Kunst-Extremisten, die im Exzeß des Gefühls ihre Inspiration
suchen. So wie seinerzeit D'Annunzio, der sich von seiner Freundin Olga
Ossani im Garten der Villa Medici nackt an einen Baum fesseln ließ und
somit der Obsession Sebastian mit seinem Körper Konturen verlieh. Später
meißelte er über dem Kamin seiner Villa La Capponcina diese Worte ein: "Et
quid volo nisi ardeat" - Und was will ich sonst als Brennen?
Eine Pilgerfahrt zum heiligen Sebastian ist eine Reise
zum Mittelpunkt des Schmerzes. Eine Apperzeptionsverdichtung an den
äußersten Rändern des bewußten Gewahrens. Das Heilige und das Profane,
Transzendenz und Laster müssen in immer neuen Mischverhältnissen chemisch
gebunden werden. Ein Remedium gegen das Übel der Epoche: die Stumpfheit
der Erfahrung zwischen Trugbildern und Weltverlust.
Wir sind am Ende der "Grand Tour" durch die
undomestizierten Landschaften unserer Vorstellungskraft. Wieder im Hause
der Anna Fraschetti, greifen wir noch zu dem Gedichtband von Rainer Maria
Rilke, der auf der kleinen Kommode liegt: "Und die Pfeile kommen: jetzt
und jetzt / und als sprängen sie aus seinen Lenden."
Für 2003 ist in der Kunsthalle Wien eine Ausstellung zu
dem Thema "Der heilige Sebastian oder der Künstler als exemplarisch
Leidender" in Vorbereitung.
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