diepresse.com
zurück | drucken
19.01.2002 - Zeichen der Zeit
Die Reise zum Mittelpunkt des Schmerzes
ZUM NAMENSTAG DES HEILIGEN SEBASTIAN: EINE PILGERFAHRT
VON GERALD MATT


Am 20. Jänner feiert der heilige Sebastian Namenstag. Und wie jedes Jahr werden die Bewunderer des Schmerzensmannes nach Rom pilgern, um ihm zu huldigen.

Der Heilige erscheint in vielerlei Gestalt: Sebastian als ekstatischer Masochist, lustvoll den Pfeilregen empfangend; als tugendhaft verklärter Nazarenerjüngling mit einer Haut, so weiß wie die Unschuld selbst; als anämischer Leidensmann im photorealistischen Stil; als willkommene Beute einer lieblichen akademischen Aktpinselei aus dem 19. Jahrhundert.

Der heilige Sebastian - eine polymorphe Projektion menschlicher Obsessionen und Laster, die, von Guido Reni bis Julian Schnabel, eine Spur des Schmerzes durch Jahrhunderte der Kunstgeschichte zieht. Und auch heute noch Objekt des Voyeurismus und der Identifikation von Leuten, die einen ästhetisch Vollendeten benötigen, um ihren Weltekel zu transzendieren.

Pension Fraschetti, Privatzimmer, Frühstück exklusive. Doppelbett mit Zusatzpritsche, Via Ottaviano, in Sichtweite des Vatikans. Hier darf im Vorzimmer Sebastian als Pin-up-Figur zwischen einer Madonna dolorosa in Porzellan und einer Postkarte, die das Konterfei des Papstes zeigt, sein Lied vom Leid singen. An ihm geht keiner vorüber, ohne den Blick zu heben und innezuhalten. Im Unterbewußtsein nisten sich Geschichte und Geschichten ein: etwa die Erinnerung an den japanischen Überästheten Yukio Mishima, der vor Renis Sebastian sein Coming-out erlebte und nach dem Platzen seiner faschistischen Träume Seppuku beging, um seinem Idol endgültig nachzufolgen; oder an Salvador Dalí, der "seinen" Sebastian in "Italien am Ende eines schwarz-weiß mit Marmor gelegten Treppenaufganges" fand und seine Briefe an Lorca mit "San Sebastian" unterschrieb.

Die Pension Fraschetti mit ihrer säuerlichen Atmosphäre aus Devotionalienkitsch und gesunder Hypokrisie kann ein Basislager sein, um ins Innere des Sebastian-Mythos einzusteigen - so gut wie jeder andere Ort. Denn der Heilige läßt sich nicht geographisch festbinden, er lebt in uns, als hysterische Seelenwallung im Banne einer Figur "zwischen Säkularisierung des Heiligen und Sakralisierung des Profanen", wie es Heusinger
von Waldeck einmal ausgedrückt hat.

Wenn wir uns, in der Früh von der Via Ottaviano 16 aufbrechend, in einem Dérive durch die Straßen und Randbezirke Roms verschwenden, dann suchen wir zwar nach Zeichen und Erscheinungen, die uns von der realen Präsenz des heiligen Sebastian im Spiegel seiner Abbilder künden, aber auch nach jenem "exemplarisch Leidenden", der er, nach Susan

In den Katakomben unter der Basilica di San Sebastiano verdichtet sich die Grausamkeit der frühchristlichen Jahrhunderte in einer gestauten Luftsäule.

Sontag, im halluzinatorischen Imaginarium der Kunst geworden ist.

Wir betreten durch die Basilica di San Sebastiano an der Via Appia Antica die Katakomben, in denen sich die Grausamkeit der frühchristlichen Jahrhunderte in einer gestauten Luftsäule zu verdichten scheint, und wir denken daran, daß Sebastianspfeile als Schutz vor der Pest getragen wurden. Wir gehen weiter zur Kirche San Sebastiano, lassen uns von der im Halbdunkel hingestreckten Giorgetti-Statue berauschen, die dämonische Schatten wirft wie ein Artefakt aus dem Kabinett des Dr. Caligari. Wir sind nicht allein: Um den 20. Jänner treffen die Connaisseure aus den unterschiedlichsten Provinzen des Begehrens ein, werfen sich verschwörerische Blicke zu und lesen sich mit gedämpfter Stimme die geheiligten Worte des Malers Odilon Redon zu: "Der Künstler unterscheidet sich vom Dilettanten durch die Schmerzen, die er empfindet. Wer leidet, wird erhöht. Schlagt. Schlagt immer zu. Die Wunde wird fruchtbar."

Auf den Traumpfaden einer ungestillten Sehnsucht sieht man bleiche junge Männer amalfitanischer Adelsherkunft, britische Exzentriker, wie die beiden Décadents Medlar Ducan und Durian Grey, und spanische Kunst-Extremisten, die im Exzeß des Gefühls ihre Inspiration suchen. So wie seinerzeit D'Annunzio, der sich von seiner Freundin Olga Ossani im Garten der Villa Medici nackt an einen Baum fesseln ließ und somit der Obsession Sebastian mit seinem Körper Konturen verlieh. Später meißelte er über dem Kamin seiner Villa La Capponcina diese Worte ein: "Et quid volo nisi ardeat" - Und was will ich sonst als Brennen?

Eine Pilgerfahrt zum heiligen Sebastian ist eine Reise zum Mittelpunkt des Schmerzes. Eine Apperzeptionsverdichtung an den äußersten Rändern des bewußten Gewahrens. Das Heilige und das Profane, Transzendenz und Laster müssen in immer neuen Mischverhältnissen chemisch gebunden werden. Ein Remedium gegen das Übel der Epoche: die Stumpfheit der Erfahrung zwischen Trugbildern und Weltverlust.

Wir sind am Ende der "Grand Tour" durch die undomestizierten Landschaften unserer Vorstellungskraft. Wieder im Hause der Anna Fraschetti, greifen wir noch zu dem Gedichtband von Rainer Maria Rilke, der auf der kleinen Kommode liegt: "Und die Pfeile kommen: jetzt und jetzt / und als sprängen sie aus seinen Lenden."

Für 2003 ist in der Kunsthalle Wien eine Ausstellung zu dem Thema "Der heilige Sebastian oder der Künstler als exemplarisch Leidender" in Vorbereitung.



© Die Presse | Wien