Eine quadratische Wolke aus Stahl
Zwanzger Haus. Unbeachtet, nur wenige Schritte vom Oberen Belvedere entfernt, spielt sich das wohl denkwürdigste Architekturspektakel des 20. Jahrhunderts in Wien noch einmal ab.
Jan Tabor Wien (SN). Eine temporäre Sehenswürdigkeit sondergleichen: die Ästhetik des Rohbaus im rohesten Zustand, der grandiose Sieg über die Gravitation und die ewig beschworene mysteriöse Wahrheit in der Architektur auf einmal. Sichtbar, erkennbar, einsichtig. Eine gewaltige Zeitmaschine für eine Reise in die Vergangenheit. Das Werden der Utopie in der Rückblende. Die dritte Reprise.
Dort, wo vor einigen wenigen Wochen das fast bis zur irreparablen Ruine heruntergekommene „Museum des Zwanzigsten Jahrhunderts“ gestanden ist, befindet sich jetzt ein riesiges Loch. Wie nach einem Vulkanausbruch steigt eine quadratische Stahlwolke hinauf und schwebt gravitätisch und graziös über dem wild aufgewühlten Krater. In jedem Moment, so scheint es, kippt das Ding um, verschwindet mit lautem Krach wieder im Krater. Oder hebt doch ab und fliegt weg. Nach Salzburg wohl zuerst, von wo 1956 die Idee, eine derart kühne Konstruktion in ein Bauwerk umzusetzen, dem Wiener Architekten Karl Schwanzer (1918–1975) zugeflogen ist. Damals leitete der deutsch-amerikanische Architekt Konrad Wachsmann zum ersten Mal die Sommerakademie für bildende Kunst in Salzburg und stellte seine präzise entwickelten Visionen von Architektur schwebender Tragwerke vor. Für junge Architekten war er der Gott der Moderne und Salzburg seine Residenzstadt.
Zum dritten Mal kann man nun die einzigartige Skelettkonstruktion von Architekt Karl Schwanzer und von Statiker Robert Krapfenbauer in ihrer vollen ursprünglichen Lapidarität bewundern. In der Höhe von sechs Metern über der Erde, das gegenwärtig ausgegrabene tiefe Loch mit den bloßgelegten Stahlbetonfundamenten nicht mitgerechnet, halten vier schlanke, zu einem Geviert von sechzehn Metern Seitenlänge gestellte Stahlträger das gewaltige Fachwerk von 40 mal 40 Meter Seitenlänge fein ausbalanciert und graziös in der Luft. Man wundert sich, wieso das quadratische Luftschiff nicht abhebt und den Kurs zurück nach Brüssel nimmt, wo das Bauwunder entstanden war und ein Halbjahr stand, um von 3,5 Millionen Menschen besucht zu werden. Keine Schaulustigen da. Keine Zaungäste sammeln sich hinter der Baustellenumfriedung, um dem Werden eines legendären Bauwerkes retrospektiv zu huldigen. Eines Wunderwerks, von dem zu Recht behauptet wird, mit ihm kehre die moderne Zeit, ja, die ganze tolle westliche Welt, endlich nach Wien ein. Die Zukunft, also unsere Gegenwart, allerdings die aus der Zeit vor einigen Monaten, sowieso. Die Zukunft hieß damals „eine menschlichere Welt“. Im Motto der Expo 1958.
Schwer zu beschreiben, was Österreich alles mit diesem Bauwerk im Nu erreichen konnte. Aufmerksamkeit und Anerkennung nach außen. Nach innen Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Zuversicht. Die Staatsmetapher für den Expo-Pavillon 1958 war „Österreich als politische, wirtschaftliche und kulturelle Brücke zwischen Nord und Süd und Ost und West“.
Der Erfolg war inspirierend. Bald entstand die Idee, man müsse dieses Stück der politischen Wunderarchitektur demontieren und in Wien wieder aufstellen. Als Museum moderner Kunst. Erweitert um einen kleinen Foyer-, Service- und Verwaltungstrakt, mit einem verglasten, in die Natur des Parks offenen Unterbau und flankiert von drei Höfen als Skulpturengärten wurde das „Museum des Zwanzigsten Jahrhunderts“ 1963 eröffnet. Das war kein Schritt in die Zukunft, es war ein Sprung.
Das „Zwanzger Haus“, wie man es bald liebevoll nannte, zählte nicht zu den großen Kunsthäusern auf der Welt, aber zu den besten. Dank Gründungsdirektor Werner Hofmann und dessen Nachfolger Alfred Schmeller ist es kein konventionelles Museum geworden, sondern ein offenes Haus. Offen auch für Musik, Tanz, Architektur. Je experimenteller und radikaler, desto besser. Dank der Architektur der offenen Halle: Das Einraummuseum war damals die urmodernste Museumsform. Heute auch. Am Zwanzger Haus kann man messen, wie reaktionär die neuen Museen im Wiener MuseumsQuartier geworden sind. In Wien gibt es keinen besseren und schöneren Ausstellungsraum. Nur lauter kleine dunkle Kabinette.
Von der Architektur des Expo-Pavillons aus wurde Österreich systematisch verbessert. Damit auch die Welt. Merkwürdiges Österreich. 2008 wurde alles Mögliche, dem ein 8 angehängt werden konnte, bedacht. An die EXPO 1958 wurde kein einziger Erinnerungsgedanke verschwendet.
Kein Malheur. Das Zwanzger Haus hat zwei gute Geister.
Agnes Husslein-Arco, die Direktorin des Belvedere, zu dem das Gebäude gehört. Ihr ist es gelungen, die Wiederherstellung durchzusetzen. Adolf Krischanitz, der Rekonstrukteur. Er ist mit dem Haus emotionell verbunden. Zehn Jahre nach der Eröffnung stellte hier die Architektengruppe Missing Link, der Krischanitz angehört hat, aus. Mit großem Erfolg. Hier wird alles zum großen Erfolg. Auch die Renovierung. Man kann das Werden des Erfolgs besichtigen. Noch im Originalrohbau der Staatsmetapher Brückenwerk von 1958.