Band 137, Juni – August 1997, Seite 230, DOKUMENTATION 

ATLAS DER KÜNSTLERREISEN

GERTRUDE MOSER-WAGNER

Indicatore als Kunst-Indikator

 

GERTRUDE MOSER-WAGNER (*1953 in der Steiermark, lebt in Wien): Vom Zugfenster aus entdeckt und fotografiert die Künstlerin Gertrude Moser-Wagner das Bahnhofsschild von Indicatore. Das Motiv verwandelt sich in einen Ideenauslöser, das Ortsschild "Indicatore" wird zum Indikator des Indikators. Die Künstlerin verschickt Postkarten des Fotos an 40 Personen aus kunstnahen und -fernen Bereichen, verknüpft mit der Bitte, einen Auftrag zu formulieren, den sie in Indicatore bei Arezzo (übrigens nicht das einzige Dorf mit diesem Namen in Italien) ausführen soll. Im Juni 1993 begibt sich Gertrude Moser-Wagner auf Forschungs- und Zeichenexpedition. Viele der Aufträge sind selbst wiederum eine Art Zeichen, Zeichen einer ahnungslosen und idyllischen Vorstellung eines italienischen Dorfes.

Es sind Aufträge, die von Aktion, Dialog und Wahrnehmung handeln, etwa: "Zwei heliumgefüllte Luftballons wären mitzunehmen, einer wäre vor der ersten Aktion bei Ankunft am Bahnhof loszulassen, der andere nach der letzten Aktion. Ist kein heliumgefüllter Ballon zu organisieren, so nimm zwei Papiersäcke, blase sie auf und zerschlage sie, einen vor der ersten Aktion in Indicatore und einen nach der letzten Aktion in Indicatore." Es sind Aufträge für Ortserkundungen, für visuelle und akustische Aufzeichnungen, etwa: "Nimm dir vierzig Minuten Zeit." Alles in allem Aufforderungen zum Handeln im Sinne eines Rituals der Annäherung an das Fremde, im Sinne "einer persönlichen Erfahrung in einem neuen Kontext", wie es die Künstlerin nennt. In ihrem Text "Künstlerin außerhalb des Rahmens" findet sich der vielsagende Satz: "Transitorische Freiluftateliers, wie das von Indicatore, können neue Werke in die Welt heben."

Die Künstlerin verbringt in Indicatore drei Tage voll von konzentrierter und zugleich abenteuerlicher Arbeit. Die Zeichen, Sprache und Inhalte der Aufträge diktieren den Rhythmus, der Kontakt mit den Bewohnern von Indicatore läßt, ganz banal gesprochen, hinter dem Begriff ein Dorf zum Vorschein kommen. So gesehen kann Indicatore mit Kunst gleichgesetzt werden, meint die Künstlerin, ja mehr noch: "Kunst ist Indikator." (Bia.)

INDICATRICE:

Künstlerin außerhalb des Rahmens -persönliche Erfahrung im neuen Kontext

Indicatore ist ein kleines, untouristisches Dorf nahe Arezzo, du erscheinst sofort als Fremdling. Wenn du eine Frau bist, ist es ungewöhnlich, daß du dir die Freiheit nimmst, alleine zu reisen. Es kommt dir Neugierde entgegen, Freundlichkeit, aber auch Mißtrauen, Ablehnung. Wenn du am Dorf Interesse beweist (Beispiel »Postkarte Indicatore«) gewinnst du seine Einwohner. Die Künstlerabsicht nützt gar nichts. Dieses Vokabular läßt du diesmal lieber weg, es verwirrt nur. Recherche (ricerca) zu sagen ist gefährlich, es bedeutet im Leben etwas anderes als in der Kunst. Kulturelle Erforschung des dörflichen Lebenszusammenhangs wird sinngemäß besser verstanden. Alles ist privat, fast nichts ist öffentlich. Das ist der große Unterschied zur Stadt. Deine Aufzeichnungsapparate können bedrohlich sein. Sprechen und Schreiben ist besser. Kinder und sehr alte Menschen sind am vertrauensvollsten. Sie sind erstaunlich offen. Nirgends scheint das Sprechen so notwendig, Dialog ist unumgänglich, sonst passiert nichts. Im Arbeiterdorf Indicatore unterscheidet das Wochenende sich von den Wochentagen gravierend. Wenn du dich als Fremdling entsprechend erklärst, respektiert man deine Motivation. Als Künstler/in trittst du aus deinem beruflichen Kontext in ein offenes System hinein. Die berufliche Wachheit und Wahrnehmungsfähigkeit ist auf eine neue Situation hin anzuwenden. Konzepte, die du in der Tasche hast, vermischen sich mit völlig unerwarteten Gegebenheiten. Die Kunst ist hinkünftig als Prozeß zu sehen, dessen Beobachtung Teil der eigenen Aufgabe ist. Am Beispiel von Indicatore ist aufgearbeitet, daß die Matrix für Kunst allenthalben vorliegt. Es muß ein Wechsel des Standpunktes vorgenommen werden und einer des Augpunktes. Kunst soll weiter »Kunst« heißen; auch wenn sie Indikator ist für Leben, ist sie ein »Herauslösen«. Künstler/innen charakterisieren sich oft durch Selbstmotivation und Überblickseuphorie. Der Freiraum der Kunst muß ausgenützt werden im Sinne neuer Lebendigkeitsformeln. Alles kann in diesen Kontext geführt werden, alles ist mit allem verbunden: Auswahl tut not. Die Frage der Materialanhäufung muß gerade in der Kunst sorgsam bedacht werden. Die Vokabel und ihre Bedeutungen müssen gerade in der Kunst entschlackt werden. Depots von Museen sind oft Totenkammern, auch wenn Werke immer wieder wechseln. Der Künstlerberuf ist zu vielseitig, um entrückt dazustehen. Heute mehr denn je. Künstler/innen geben sich selbst die Aufträge, Kunst ist Dienstleistung am Imaginären. Die Abstraktion, die Symbolisierung bleibt weiter zu leisten, wenngleich auf neuen Feldern. Es kann sein, daß das Atelier im alten Sinne bald keine Relevanz mehr hat. Für welche Werke? Transitorische Freiluftateliers, wie das von Indicatore, können neue Werke in die Welt heben.

BILDUNTERSCHRIFTEN
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatrice, 1993/96
Gertrude Moser-Wagner reiste nach Indicatore um des Indikators willen: »Der Freiraum der Kunst muß ausgenützt werden im Sinne einer neuen Lebendigkeitsformel.«
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, 1993/95. Motiv der Postkarte an die kunstnahen und -fernen Auftraggeber. Alle Fotos: Courtesy die Künstlerin
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, Auftrag Nr. 31: »Vierzigminutenzeit« von Gabi Zrost, Video. Installationsansicht Hermit Foundation, Kloster Plasy, CZ. Foto: Daniel Sperl. Videostills
Nimm dir vierzig Minuten Zeit (Auftrag per Telefon, Auszug).
25. 6. 1993, 12.30 bis 13.10 Uhr, Cimitero Inglese (englischer Soldatenfriedhof), Bank unter einer Platane, Auftrag in liegender Position ausgeführt (Videoaufzeichnung).
inks:
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, A. 20: »Lichtstrahl« von Heidemarie Seblatnig, Fotografie
Fotografiere einen Lichtstrahl, der durch eine Mauernische fällt (Auftrag per Fax, Auszug).
27. 6. 1993, 9.30 Uhr, nach langer Ausschau fündig geworden; eine Art Kiosk oder Wartehäuschen an der Hauptstraße von Indicatore, durch dessen Luke im hinteren Teil das Morgenlicht einen hellen Streifen auf Wand und Boden wirft.
unten:
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, A. 38: »Planfigur« von Elmar Zorn. Originalzeichnung von Francesca Marcucci
Fertigen Sie einen groben Plan des Dorfes an. Tragen Sie die Punkte ein, an denen sich die Pfarrkirche, die frequentierteste Bar, das beste Restaurant/Trattoria/Osteria, die Weinverkaufsstelle, das Geschäft mit der besten Mozarella und der Friedhof befinden. Verbinden Sie die Punkte durch Linien. Entscheiden Sie, ob die entstandene Figur ein »Indicatore« ist (Auftrag per Fax, Auszug).
25. 6. 1993, gegen zehn Uhr nach Einkehr in der Bar, der frequentiertesten zumindest von mir, hole ich Informationen über die durch Linien im Dorfplan zu verbindenden Punkte ein. Das Dorf ist vom Tourismus unentdeckt, deshalb sind einige Stellen nicht existent (reduzierte Planfigur Indicatore 1).
27. 6. 1993, Francesca M. zeichnet auf meine Bitte hin die Planfigur Indicatore 2 mit jenen Punkten des Dorfes, die während des Aufenthalts von Bedeutung für mich wurden.
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, A. 35: »Auf die Welt in Indicatore« von Robert Zahornicky. Foto: Robert Zahornicky
Der Auftraggeber fährt kurz vorher an einen Ort namens »Welt« in Deutschland und sendet mir von dort eine Postkarte, die ich nach Indicatore mitnehme. Gleichzeitig habe ich ihm dorthin die Postkarte von Indicatore geschickt. Text: Trink ein Glas Wein »auf die Welt in Indicatore«, damit du die Welt in dir hast und sie dich (Auftrag per Karte, Auszug).
Die »Welt« befindet sich im Reisegepäck nach Indicatore, ich deponiere sie am 25. 6. 1993 bei meiner Gastfamilie M., mit der ich so manches Glas Wein trinke.
27. 6. 1993, 12.30 Uhr, lege die »Welt« auf den Familientisch, Indicatore, Zona D, während Kinder einen Plan von Indicatore für mich zeichnen. Ich bin in meinem Zimmer, um das Gepäck fertigzumachen, als sie mir die »Welt« und den Fotoapparat nachbringen, damit ich sie nicht in Indicatore vergesse.
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, A. 34: »Mache an einer hellen Stelle dreimal Nacht« von Eberhard Eckerle
Mache an einer hellen Stelle dreimal Nacht (Auftrag per Brief, Auszug).
25. 6. 1993, faszinierender Nachtspaziergang mit der achtjährigen Rosa durch Indicatore. Ich empfinde uns wie ein Gedicht von Giovanni Pascoli. Rosa leitet mich durch das Dunkel des fremden Dorfes, sucht Umwege fernab der Straße, wohl um die Zeit zu verlängern. Dreimal machen wir Station:
Una lúcciola, ein Glühwürmchen wird von ihr am Wegrand gesichtet, Rosa nimmt es in ihre Hand. Die Straßenlampe hat seinen Leuchter außer Kraft gesetzt.
Sie führt mich zur Schule, einem architektonisch auffälligen Bau, weist auf ihr Klassenzimmer. Das Gebäude liegt, umgeben von einem hohen Zaun, im Dunkel hinter der Straße.
Abschließend gehen wir Richtung Sportplatz, wo ein Tanzfest im Freien stattfindet. Die Klänge der Musik waren bereits die ganze Zeit über leise zu hören. Bewegung des Dorfes empfängt uns.
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, A. 3: »Etwas Liebenswertes« von Roman Klune
Mit einem Wiener Stadtplan den Ortskern von Indicatore suchen und dort etwas Liebenswertes finden (Auftrag mündlich).
25. 6. 1993, gegen 9.30 Uhr morgens, Fußweg ab Bahnhof in das vermutete Zentrum des Dorfes.»Ortskern« ist der Indikator von Indicatore. Dieser historische Weganzeiger befindet sich schräg vis à vis der Bar, in die ich einkehre. Die Signora ist die erste Person, die mir den Indikator zeigt. Ich zeige ihr die Indicatore-Postkarte und stelle mich als Kulturschaffende vor. In ihrer Liebenswürdigkeit bietet sie mir an, das Gepäck in der Bar zu lassen, während ich das Dorf erforsche.
GERTRUDE MOSER-WAGNER, Indicatore, A. 37: »Dialoge entwickeln« von Paolo Bianchi. Tagebuch der Künstlerin