Tagblatt
Amtsblatt
EXTRA
SubSites

. _

Wiener Zeitung

1037 Wien, Rennweg 16 Tel. ++43 1 20699-0

-----

|||||

-----

[Home] [EU] [Staat] [Wirtschaft] [Kultur] [Wissen] [Computer]

.


Suche in:
Zeitung
Internet
Amtsblatt

Software
EDV-Links

Text + Bild

.

Über die Erweiterung des Kunstbegriffs im 20. Jahrhundert / Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer
. .

Die Heiligkeit des Sinnlosen

300 Jahre Wiener Zeitung!Joseph Beuys, sicher einer der bekanntesten und umstrittensten Künstler in der zweiten Hälfte des abgelaufenen Jahrhunderts, meinte, dass nur die Künstler, die den Kunstbegriff hin zum "Anthropologischen" erweitern, den Gefahren des sich Totlaufens in der Innovation und der "Verbürgerlichung" entgehen. Beuys erweiterte und korrigierte aber vor allem Ideen, die schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Theorie und Praxis vorhanden waren. Die Grenzen wurden zu Beginn von der Volkskultur der so genannten Naturvölker, der Kunst der Geisteskranken ("Zustandsgebundene Kunst") hin zur Technik, zur Alltagskultur und auch zur Wissenschaft fließend gemacht. Damit verschwanden aber auch die strengen Gattungsbegriffe · und der Austausch zwischen Architektur, Skulptur, Malerei, so genanntem "Kunstgewerbe" und den anderen künstlerischen Disziplinen wie Musik, Theater und Literatur begann.


Solche Entwicklungen gab es auch schon in Manierismus, Barock und im 19. Jahrhundert ansatzweise, aber erst im 20. wurden sie programmatisch.
Für den Kunsthistoriker Werner Hofmann sind die drei Wegbereiter dieser Entwicklung Kandinsky, Mondrian und Duchamp.


Solche Entwicklungen gab es auch schon in Manierismus, Barock und im 19. Jahrhundert ansatzweise, aber erst im 20. wurden sie programmatisch.
Für den Kunsthistoriker Werner Hofmann sind die drei Wegbereiter dieser Entwicklung Kandinsky, Mondrian und Duchamp. 1910 malte Kandinsky, der Exilrusse und wichtige Lehrer am "Bauhaus", sein erstes gegenstandsloses Aquarell, eine Serie weiterer folgten bis 1914. Er hat die Malerei damit vom Narrativen und die Illustration vom Literarischen befreit, das Bild autonom und selbstreferentiell gemacht: es illustriert seitdem nur mehr seine eigenen geistigen Gesetze, die ihm innewohnende Geschichte. Piet Mondrians geometrische Abstraktion hat noch einen anderen Hintergrund im eigenen Land, also den Niederlanden: die Philosophie Spinozas und die bilderstürmerischen Gedanken der Calvinisten; 1920 schrieb er sein theoretisches Werk über den "Neo-Plastizismus".
Auch die Fotografie war für diese Künstler Anlass, sich der Aufgabe der Abbildung der Wirklichkeit zu entziehen; die Erfindung Daguerres hatte schon Paul Delaroche im 19. Jahrhundert zur pathetischen Voraussage des Todes der Malerei bewogen, doch die Maler erholten sich von dem Schock und fanden eine andere Erweiterung: die gegenstandslose Gesetzmäßigkeit als lang erträumte Harmonie.
Marcel Duchamp war aber ein noch radikalerer Erweiterer: als er mit seiner Malerei nicht recht weiterkam, stellte er 1914 ein Pissoir als "Fountain" in einer Galerie aus. Die Vorwürfe, die dem Künstler in der Folge von der Kritik gemacht wurden, waren zahlreich, das Nachleben seiner "Ready-mades" und seine radikale Verbindung von Kunst und Leben sind aber bis heute von großer Bedeutung. Interessant ist der Vorwurf, den Beuys Duchamp machte: nicht die Ready-mades störten ihn, denn die entsprachen auch seiner Gleichung von Kunst und Leben im Sinne von "Jeder Mensch ein Künstler", sondern das "kalte Schweigen" des alten Duchamp, der die Kunst aufgab und Schach spielte.

Einerseits lehnte Beuys die Komponente des Bürgerschrecks im Dadaismus ab, andererseits beklagte er die fehlende "Wärme" der Kommunikation, sah Duchamp in kristalliner Härte und Kälte des männlichen Intellekts erstarrt.

Einerseits lehnte Beuys die Komponente des Bürgerschrecks im Dadaismus ab, andererseits beklagte er die fehlende "Wärme" der Kommunikation, sah Duchamp in kristalliner Härte und Kälte des männlichen Intellekts erstarrt.
Kasimir Malewitsch gehört auch zu den Erweiterungsheroen der ersten Stunde: 1913 entwarf er für ein Bühnenbild zur Oper "Sieg über die Sonne" seines Landsmanns Matjuschin das Bild "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund", das er 1929 wiederholte. Er bezeichnte es als "nackte Ikone", als "Nullform" und als "grundlegendes suprematistisches Element", die Kritik hingegen fühlte sich wie "in einer Wüste". Die Entgrenzung passierte in Russland auch durch den Blick auf die alte Volkskunst der Ikone, so wie im Westen die Kunst der Naturvölker (ab Gauguin, Picasso u. a.) für Bereicherung sorgte. Malewitsch verglich den Kampf gegen die Abstraktion mit dem Kampf des Tieres gegen den Menschen.
Neue Materialien
Ein weiterer Grenzgang findet im ganzen 20. Jahrhundert zwischen den Polen der als männlich bezeichneten geistigen, konzeptuellen · und der als weiblich bezeichneten ornamentalen, sinnlich- körperlichen Kunst statt. Ist noch in der ersten Hälfte mit Loos' Polemik gegen das weibliche Ornament, Mondrians Theorie der Geschlechterrollen mit starrer Trennung von Geist und Materie, den frauenfeindlichen, kriegsverherrlichenden Tendenzen im Futurismus und noch mehr mit den Kunstauffassungen der totalitären Staaten die Geschlechtertrennung radikal betont, so gleichen in der zweiten Hälfte Persönlichkeiten wie Beuys, aber auch die Emanzipation der weiblichen Künstlerinnen das Verhältnis aus · die fundamentalistische Sicht der Geschlechter wird ab-und ausgeblendet. Aber schon Künstler wie Hans Arp oder Gustav Klimt hatten gegen die männlichen Konzepte verstoßen. Auch die Künstlerinnen im Surrealismus kannten diese Einengung auf eine weibliche Ästhetik nicht: so ist etwa die "Pelztasse", 1936 von Meret Oppenheim schlicht "Objekt" genannt, eine hinreißend poetische Fortführung der Duchamp'schen "Ready-mades".
Es machen sich in dieser Gruppe auch neue Materialien bemerkbar: Felle, Federn, Haare, die später im Werk von Beuys nebst Fingernägeln, Fett, Filz und Honig eine große Rolle spielen und außerdem in der "Arte-povera" eine Erweiterung der plastischen Materialien bedeuten. Die Neuerungen in der Anti-Kunst des Dadaismus waren vor allem prinzipieller Natur: das Zulassen des Zufalls, die "Heiligkeit des Sinnlosen", angewandt mit der Ars Combinatoria im experimentellen laborartigen Materialmodell, selbst wenn es um wertlose Materialien und scheinbar sinnlose Bauten (wie Schwitters "Merz- Bau" von 1918 bis 1939), um Maschinenkunst und um Spontanität und unmittelbare Gegenwartsbezogenheit ging. Der Demokratisierungsprozess umfasste alles von der Idee bis zum Material, die Dadaisten forderten in ihren Manifesten sogar zum sofortigen Widerspruch gegen dieselben auf. Der Abbau von Aura, Autoritäten und Hierarchien konnte aber die parallele und gegensätzliche Entwicklung zur mythischen Künstlerfigur (bis hin zu den beiden englischen "lebenden Skulpturen" Gilbert & George) nicht verhindern, was wiederum einen Rückgriff auf das 19. Jahrhundert bedeutete.
Die Architektur hatte längst die Ingenieursleistungen der Jahrhundertwende und die der Funktion folgende Form, aber auch neben der Ästhetik des Industriellen das organische Bauen forciert. Nachdem im Bauhaus die Ästhetisierung des Alltags voranschritt und die Gattungen zum Einheitskunstwerk vereint waren (trotz des Streits der Metaphysiker mit den Rationalisten), starb der Traum von der gerechten Entwicklung der Menschheit mit Hilfe der Kunst durch die Politik und den Krieg (aber auch den realen Kommunismus). Selbst die Erweiterung der Themen und der Methode der "automatischen Handschrift" als "Seelenschreiber" im Surrealismus, Resultat der Psychoanalyse Sigmund Freuds, dem sich André Breton zu Dank verpflichtet fühlte, waren vorübergehend ausgeklammert · als Art- informel oder Pollocks Drip-painting kehrten sie wieder. Der Surrealismus hatte außerdem mit Frottage, Fumage und Abklatsch die Malerei erweitert.
Kitsch wird legitim
Die Aufholjagd nach dem Rückschlag musste vorerst neben den apokalyptischen Visionen vom Tod der Kunst zu einer Neuauflage von schon Gedachtem aus der (ersten) Phase der "klassischen" Moderne führen. Zu der seit Duchamp und den Konstruktivisten angestrebten Vereinigung von Kunst und Leben kam eine Entgrenzung von "High and Low": Kitsch war erstmals in der Pop-Art ein legitimes Mitglied im künstlerischen Diskurs. Der lange Abschied vom Tafelbild wurde mit schrittweisen Entwicklungen von der Auflösung des rechteckigen Formats ("Shaped canvas" Frank Stellas), der Loslösung von der Wand durch "Combine painting" und Assemblage über Minimal Art, Konzeptkunst bis hin zur Land-Art betrieben. Kunsthistoriker wie Werner Hofmann und Victor Stoichita haben aber mehrmals darauf hingewisen, dass viele dieser, nun isoliert auftretenden Entwicklungen ihren Anfang schon im Mittelalter und dem Gesamtkunstwerk des Barock so wie den bilderstürmerischen Gedanken Luthers oder Spinozas nahmen.
Doch hielten sich neben reduktiven Tendenzen auch sinnenfreudige Ausläufer des Realismus (wie die dadaistische Gruppe des Nouveau Réalisme) oder die neue Figuration (Francis Bacon), die nicht so einfach als innovationslos hingestellt werden können. Genauso wurde das Immaterielle · z. B. das Licht, mit dem von Dan Flavin über Mario Merz, Bruce Nauman bis zur Österreicherin Brigitte Kowanz agiert wird · gegen die Untersuchung des Materials und der Oberfläche bei Yves Klein, Manzoni, Anselmo oder Lois Weinberger ausgespielt. Auch der verloren geglaubte Mythos kehrte 1972 mit der von Harald Szemann geprägten Bezeichnung "Individuelle Mythologien" in die Kunst zurück · von der Malerei bis zum Environment als subjektiver Schlag gegen die Objektivität von Konzept und Minimal-Art.
Zum wieder aufgenommenen Demokratisierungsprozess gehören die abnehmende Bedeutung des "Autors", dieTeamworks von Künstlerinnen und Künstlern in den neunziger Jahren, die Übertragung von Kreativität auf den Rezipienten, die Freiheit in der Wahl der Materialien und die Freiheit in der Wahl der Vorbilder aus der Kunstgeschichte. Wichtig wurden auch die vorangetriebenen Auflösungen der Grenzen zur Musik: John Cage wurde zum wichtigsten Vermittler, und Österreich kann sich glücklich schätzen, dass mit einem Künstler wie Bernhard Leitner die klingende Skulptur und die Architektur der Töne mit Hilfe neuester Elektronik und reduzierter, ingenieurhafter Strenge entwickelt werden konnten. Der "Sündenfall" der Dominanz des Sehens gegenüber dem Hören, der uns seit Platon verfolgt, ist damit aufgehoben.
Eine Kombinatorik im völlig neuen Bereich eröffnete sich der Kunst durch die Neuen Medien: am Computer ist wirklich jeder Mensch ein Künstler, wenn auch keineswegs im Beuys'schen Sinn, der den Computer als autistisches und kaltes Instrument ablehnte. Die künstlichen Welten wurden schon 1964 von Marshall McLuhan als eine Entwicklung zur Völkerverständigung gepriesen. Der scheinbar so paradiesische Zustand fördert aber vordergründigen Narzissmus und könnte etwa auch dieGentechnik zur Ästhetisierungsbranche hochkommen lassen: Kunst als Dienstleistung mit ökonomischer Zweckgebundenheit, am Rande der Unterhaltung, mit einer verflachten, der Erlebnisgesellschaft entsprechenden Ästhetik. Alles ist simulierbar, durch die produktive Komponente aber auch pervertierbar: selbst Krieg kann vom Computer aus gesteuert werden.
Körper als Leinwand
Es gibt keine moralische Beschränkung für den künstlerischen Prozess mehr. Dies hatte schon die Romantik eingefordert, auch Nietzsches "Übermensch" geistert herum. In den neuen Medien wird nicht mehr die Kunst sinnentleert und entwürdigend verletzt, sondern die Geschichte selbst. Die Verletzung selbst hat auch eine Erweiterungsgeschichte im Thematischen wie im Faktischen hinter sich: Sie zieht sich von den Surrealisten, die neben schmerzlichen Themen die Leinwand anbrannten, das Papier durchbohrten oder abrieben, zum "Concetto spaziale" Lucio Fontanas, der 1948 die Leinwand aufschnitt und stellenweise mit dem Messer durchbohrte. Der sad(omasoch)istische Akt und die Zerstörung der Haut als Leinwand des Körpers war wiederum wichtig für die Aktionisten Rudolf Schwarzkogler, Günter Brus und Hermann Nitsch, aber besonders für die weiblichen Vertreterinnen dieser Ausdruckskunst: Gina Pane, Carolee Schneemann und die Österreicherin Valie Export.
"Zeige deine Wunde" heißt eine Aktion von Joseph Beuys, der dem erweiterten Kunstbegriff und seiner Vorstellung von der damit eng zusammenhängenden "sozialen Plastik" als Gesellschaftsutopie auch viele theoretische und pädagogische Beiträge widmete. Seine poetischsten Aktionen aber waren mit schamanistischen Leittieren verbunden: "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" von 1965 und die Aktion "Kojote" 1974, die eigentlich "I like America and America likes me" hieß. Seine Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, einen Ausweg aus dem Kapitalismus durch die künstlerischen Kapazitäten jedes Menschen, seine romantische Vorstellung eines Lebens und einer Kunst ohne Verbote und Vorschriften hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Bei aller Erneuerung ist er in dieser Utopie über Goethes Wunsch nicht hinausgekommen, den Oskar Schlemmer in sein Manifest von 1923 einbaute: "Wenn die Hoffnungen sich verwirklichen, dass die Menschen mit all ihren Kräften, mit Herz und Geist, mit Verstand und Liebe sich vereinigen und voneinander Kenntnis nehmen, so wird sich ereignen, woran jetzt noch kein Mensch denken kann · Allah braucht nicht mehr zu schaffen, wir erschließen seine Welt" .
Ob die weltweite Vernetzung ein Beginn davon ist? Zweifel müssen schon deshalb angemeldet werden, weil an jedem Netzpunkt ein Mensch sitzt, und abgesehen davon, dass dieser selten Kunst betreibt, steht der Missbrauch neben dem positiven Nutzen. Der junge chinesische Künstler Cai Guo-Qiang, der eine entgrenzte Kombinatorik von aktionistischen und konzeptuellen Methoden mit Hilfe neuester Techniken anwendet, sieht die Folgen des mit Angst überwundenen Jahrtausendsprungs im Computer allein in der Fehlerquelle Mensch begründet. Es ist nicht der Computer Schuld, wenn verflachte, hübsche und oft lächerliche "World-Art" gemacht wird, die zur Provinz in der ganzen ästhetisierten Umwelt abfällt. Dieses "Abplätschern" jeglicher künstlerischer Leistung ist keine Erweiterung des Kunstbegriffs mehr, sondern die Vertreibung aus dem Paradies. Aber es hat immer Auswege gegeben · und Künstlerinnen wie Pippilotti Rist, Dara Birnbaum, Valie Export oder die junge Uli Aigner zeigen durchaus künstlerisch hochstehende Ergebnisse am Bildschirm.
Polemiken gegen die Kunst in ihrer Zeit · die frühesten kennen wir von Platon gegen die illusionistische Kunst und von Bernhard von Clairvaux gegen die Gotik · werden bleiben, die meisten Namen von Epochen und Stilen sind Schmähungen gegen diese. Die Erweiterung des Kunstbegriffs zieht daher nicht den Tod der Kunst nach sich, wie viele meinen, sondern sie ist nur ein notwendiger Spiegel einer Krise der westlichen Kultur: aus Krisen kann aber (lernend) wieder ausgestiegen werden. Das Ende der Avantgarde bereitet schon insofern kein Kopfzerbrechen, als der Begriff selbst aus dem Vokabular der Kriegstaktik des Carl von Clausewitz von 1832 stammt und "Vorhut" bedeutet, somit ruhig auslaufen kann, auch wenn namhafte Kritiker und Kunsthistoriker ihn unbeirrt weiter verwenden, genauso wie das Vokabular des Faschismus mit dem, zugegebenerweise schon davor vorhandenen, aber erst ab 1936 derart missbrauchten Wort "entartet" in unserer Zeit viel zu bedenkenlos eingestreut wird. Das kann dem Sinn von Gleichheit in der Ära der Nach-Moderne nicht entsprechen.


Erschienen am: 28.01.2000

.


Mit unseren Suchseiten können Sie in der Zeitung und im Internet recherchieren. Nutzen Sie die Link-Sammlungen, um EDV-Unternehmen und Software zu finden.

.