Die Heiligkeit des Sinnlosen
Joseph Beuys, sicher einer der
bekanntesten und umstrittensten Künstler in der zweiten Hälfte des
abgelaufenen Jahrhunderts, meinte, dass nur die Künstler, die den
Kunstbegriff hin zum "Anthropologischen" erweitern, den Gefahren des sich
Totlaufens in der Innovation und der "Verbürgerlichung" entgehen. Beuys
erweiterte und korrigierte aber vor allem Ideen, die schon in der ersten
Hälfte des Jahrhunderts in Theorie und Praxis vorhanden waren. Die Grenzen
wurden zu Beginn von der Volkskultur der so genannten Naturvölker, der
Kunst der Geisteskranken ("Zustandsgebundene Kunst") hin zur Technik, zur
Alltagskultur und auch zur Wissenschaft fließend gemacht. Damit
verschwanden aber auch die strengen Gattungsbegriffe · und der Austausch
zwischen Architektur, Skulptur, Malerei, so genanntem "Kunstgewerbe" und
den anderen künstlerischen Disziplinen wie Musik, Theater und Literatur
begann.
Solche Entwicklungen gab es
auch schon in Manierismus, Barock und im 19. Jahrhundert
ansatzweise, aber erst im 20. wurden sie programmatisch. Für den
Kunsthistoriker Werner Hofmann sind die drei Wegbereiter dieser
Entwicklung Kandinsky, Mondrian und
Duchamp.
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Solche Entwicklungen gab es auch schon in Manierismus, Barock und
im 19. Jahrhundert ansatzweise, aber erst im 20. wurden sie
programmatisch. Für den Kunsthistoriker Werner Hofmann sind die drei
Wegbereiter dieser Entwicklung Kandinsky, Mondrian und Duchamp. 1910 malte
Kandinsky, der Exilrusse und wichtige Lehrer am "Bauhaus", sein erstes
gegenstandsloses Aquarell, eine Serie weiterer folgten bis 1914. Er hat
die Malerei damit vom Narrativen und die Illustration vom Literarischen
befreit, das Bild autonom und selbstreferentiell gemacht: es illustriert
seitdem nur mehr seine eigenen geistigen Gesetze, die ihm innewohnende
Geschichte. Piet Mondrians geometrische Abstraktion hat noch einen anderen
Hintergrund im eigenen Land, also den Niederlanden: die Philosophie
Spinozas und die bilderstürmerischen Gedanken der Calvinisten; 1920
schrieb er sein theoretisches Werk über den "Neo-Plastizismus". Auch
die Fotografie war für diese Künstler Anlass, sich der Aufgabe der
Abbildung der Wirklichkeit zu entziehen; die Erfindung Daguerres hatte
schon Paul Delaroche im 19. Jahrhundert zur pathetischen Voraussage des
Todes der Malerei bewogen, doch die Maler erholten sich von dem Schock und
fanden eine andere Erweiterung: die gegenstandslose Gesetzmäßigkeit als
lang erträumte Harmonie. Marcel Duchamp war aber ein noch radikalerer
Erweiterer: als er mit seiner Malerei nicht recht weiterkam, stellte er
1914 ein Pissoir als "Fountain" in einer Galerie aus. Die Vorwürfe, die
dem Künstler in der Folge von der Kritik gemacht wurden, waren zahlreich,
das Nachleben seiner "Ready-mades" und seine radikale Verbindung von Kunst
und Leben sind aber bis heute von großer Bedeutung. Interessant ist der
Vorwurf, den Beuys Duchamp machte: nicht die Ready-mades störten ihn, denn
die entsprachen auch seiner Gleichung von Kunst und Leben im Sinne von
"Jeder Mensch ein Künstler", sondern das "kalte Schweigen" des alten
Duchamp, der die Kunst aufgab und Schach spielte.
Einerseits lehnte Beuys die
Komponente des Bürgerschrecks im Dadaismus ab, andererseits beklagte
er die fehlende "Wärme" der Kommunikation, sah Duchamp in
kristalliner Härte und Kälte des männlichen Intellekts
erstarrt. |
Einerseits lehnte Beuys die Komponente des Bürgerschrecks im Dadaismus
ab, andererseits beklagte er die fehlende "Wärme" der Kommunikation, sah
Duchamp in kristalliner Härte und Kälte des männlichen Intellekts
erstarrt. Kasimir Malewitsch gehört auch zu den Erweiterungsheroen der
ersten Stunde: 1913 entwarf er für ein Bühnenbild zur Oper "Sieg über die
Sonne" seines Landsmanns Matjuschin das Bild "Schwarzes Quadrat auf weißem
Grund", das er 1929 wiederholte. Er bezeichnte es als "nackte Ikone", als
"Nullform" und als "grundlegendes suprematistisches Element", die Kritik
hingegen fühlte sich wie "in einer Wüste". Die Entgrenzung passierte in
Russland auch durch den Blick auf die alte Volkskunst der Ikone, so wie im
Westen die Kunst der Naturvölker (ab Gauguin, Picasso u. a.) für
Bereicherung sorgte. Malewitsch verglich den Kampf gegen die Abstraktion
mit dem Kampf des Tieres gegen den Menschen. Neue Materialien Ein
weiterer Grenzgang findet im ganzen 20. Jahrhundert zwischen den Polen der
als männlich bezeichneten geistigen, konzeptuellen · und der als weiblich
bezeichneten ornamentalen, sinnlich- körperlichen Kunst statt. Ist noch in
der ersten Hälfte mit Loos' Polemik gegen das weibliche Ornament,
Mondrians Theorie der Geschlechterrollen mit starrer Trennung von Geist
und Materie, den frauenfeindlichen, kriegsverherrlichenden Tendenzen im
Futurismus und noch mehr mit den Kunstauffassungen der totalitären Staaten
die Geschlechtertrennung radikal betont, so gleichen in der zweiten Hälfte
Persönlichkeiten wie Beuys, aber auch die Emanzipation der weiblichen
Künstlerinnen das Verhältnis aus · die fundamentalistische Sicht der
Geschlechter wird ab-und ausgeblendet. Aber schon Künstler wie Hans Arp
oder Gustav Klimt hatten gegen die männlichen Konzepte verstoßen. Auch die
Künstlerinnen im Surrealismus kannten diese Einengung auf eine weibliche
Ästhetik nicht: so ist etwa die "Pelztasse", 1936 von Meret Oppenheim
schlicht "Objekt" genannt, eine hinreißend poetische Fortführung der
Duchamp'schen "Ready-mades". Es machen sich in dieser Gruppe auch neue
Materialien bemerkbar: Felle, Federn, Haare, die später im Werk von Beuys
nebst Fingernägeln, Fett, Filz und Honig eine große Rolle spielen und
außerdem in der "Arte-povera" eine Erweiterung der plastischen Materialien
bedeuten. Die Neuerungen in der Anti-Kunst des Dadaismus waren vor allem
prinzipieller Natur: das Zulassen des Zufalls, die "Heiligkeit des
Sinnlosen", angewandt mit der Ars Combinatoria im experimentellen
laborartigen Materialmodell, selbst wenn es um wertlose Materialien und
scheinbar sinnlose Bauten (wie Schwitters "Merz- Bau" von 1918 bis 1939),
um Maschinenkunst und um Spontanität und unmittelbare
Gegenwartsbezogenheit ging. Der Demokratisierungsprozess umfasste alles
von der Idee bis zum Material, die Dadaisten forderten in ihren Manifesten
sogar zum sofortigen Widerspruch gegen dieselben auf. Der Abbau von Aura,
Autoritäten und Hierarchien konnte aber die parallele und gegensätzliche
Entwicklung zur mythischen Künstlerfigur (bis hin zu den beiden englischen
"lebenden Skulpturen" Gilbert & George) nicht verhindern, was wiederum
einen Rückgriff auf das 19. Jahrhundert bedeutete. Die Architektur
hatte längst die Ingenieursleistungen der Jahrhundertwende und die der
Funktion folgende Form, aber auch neben der Ästhetik des Industriellen das
organische Bauen forciert. Nachdem im Bauhaus die Ästhetisierung des
Alltags voranschritt und die Gattungen zum Einheitskunstwerk vereint waren
(trotz des Streits der Metaphysiker mit den Rationalisten), starb der
Traum von der gerechten Entwicklung der Menschheit mit Hilfe der Kunst
durch die Politik und den Krieg (aber auch den realen Kommunismus). Selbst
die Erweiterung der Themen und der Methode der "automatischen Handschrift"
als "Seelenschreiber" im Surrealismus, Resultat der Psychoanalyse Sigmund
Freuds, dem sich André Breton zu Dank verpflichtet fühlte, waren
vorübergehend ausgeklammert · als Art- informel oder Pollocks
Drip-painting kehrten sie wieder. Der Surrealismus hatte außerdem mit
Frottage, Fumage und Abklatsch die Malerei erweitert. Kitsch wird
legitim Die Aufholjagd nach dem Rückschlag musste vorerst neben den
apokalyptischen Visionen vom Tod der Kunst zu einer Neuauflage von schon
Gedachtem aus der (ersten) Phase der "klassischen" Moderne führen. Zu der
seit Duchamp und den Konstruktivisten angestrebten Vereinigung von Kunst
und Leben kam eine Entgrenzung von "High and Low": Kitsch war erstmals in
der Pop-Art ein legitimes Mitglied im künstlerischen Diskurs. Der lange
Abschied vom Tafelbild wurde mit schrittweisen Entwicklungen von der
Auflösung des rechteckigen Formats ("Shaped canvas" Frank Stellas), der
Loslösung von der Wand durch "Combine painting" und Assemblage über
Minimal Art, Konzeptkunst bis hin zur Land-Art betrieben. Kunsthistoriker
wie Werner Hofmann und Victor Stoichita haben aber mehrmals darauf
hingewisen, dass viele dieser, nun isoliert auftretenden Entwicklungen
ihren Anfang schon im Mittelalter und dem Gesamtkunstwerk des Barock so
wie den bilderstürmerischen Gedanken Luthers oder Spinozas nahmen.
Doch hielten sich neben reduktiven Tendenzen auch sinnenfreudige
Ausläufer des Realismus (wie die dadaistische Gruppe des Nouveau Réalisme)
oder die neue Figuration (Francis Bacon), die nicht so einfach als
innovationslos hingestellt werden können. Genauso wurde das Immaterielle ·
z. B. das Licht, mit dem von Dan Flavin über Mario Merz, Bruce Nauman bis
zur Österreicherin Brigitte Kowanz agiert wird · gegen die Untersuchung
des Materials und der Oberfläche bei Yves Klein, Manzoni, Anselmo oder
Lois Weinberger ausgespielt. Auch der verloren geglaubte Mythos kehrte
1972 mit der von Harald Szemann geprägten Bezeichnung "Individuelle
Mythologien" in die Kunst zurück · von der Malerei bis zum Environment als
subjektiver Schlag gegen die Objektivität von Konzept und Minimal-Art.
Zum wieder aufgenommenen Demokratisierungsprozess gehören die
abnehmende Bedeutung des "Autors", dieTeamworks von Künstlerinnen und
Künstlern in den neunziger Jahren, die Übertragung von Kreativität auf den
Rezipienten, die Freiheit in der Wahl der Materialien und die Freiheit in
der Wahl der Vorbilder aus der Kunstgeschichte. Wichtig wurden auch die
vorangetriebenen Auflösungen der Grenzen zur Musik: John Cage wurde zum
wichtigsten Vermittler, und Österreich kann sich glücklich schätzen, dass
mit einem Künstler wie Bernhard Leitner die klingende Skulptur und die
Architektur der Töne mit Hilfe neuester Elektronik und reduzierter,
ingenieurhafter Strenge entwickelt werden konnten. Der "Sündenfall" der
Dominanz des Sehens gegenüber dem Hören, der uns seit Platon verfolgt, ist
damit aufgehoben. Eine Kombinatorik im völlig neuen Bereich eröffnete
sich der Kunst durch die Neuen Medien: am Computer ist wirklich jeder
Mensch ein Künstler, wenn auch keineswegs im Beuys'schen Sinn, der den
Computer als autistisches und kaltes Instrument ablehnte. Die künstlichen
Welten wurden schon 1964 von Marshall McLuhan als eine Entwicklung zur
Völkerverständigung gepriesen. Der scheinbar so paradiesische Zustand
fördert aber vordergründigen Narzissmus und könnte etwa auch dieGentechnik
zur Ästhetisierungsbranche hochkommen lassen: Kunst als Dienstleistung mit
ökonomischer Zweckgebundenheit, am Rande der Unterhaltung, mit einer
verflachten, der Erlebnisgesellschaft entsprechenden Ästhetik. Alles ist
simulierbar, durch die produktive Komponente aber auch pervertierbar:
selbst Krieg kann vom Computer aus gesteuert werden. Körper als
Leinwand Es gibt keine moralische Beschränkung für den künstlerischen
Prozess mehr. Dies hatte schon die Romantik eingefordert, auch Nietzsches
"Übermensch" geistert herum. In den neuen Medien wird nicht mehr die Kunst
sinnentleert und entwürdigend verletzt, sondern die Geschichte selbst. Die
Verletzung selbst hat auch eine Erweiterungsgeschichte im Thematischen wie
im Faktischen hinter sich: Sie zieht sich von den Surrealisten, die neben
schmerzlichen Themen die Leinwand anbrannten, das Papier durchbohrten oder
abrieben, zum "Concetto spaziale" Lucio Fontanas, der 1948 die Leinwand
aufschnitt und stellenweise mit dem Messer durchbohrte. Der
sad(omasoch)istische Akt und die Zerstörung der Haut als Leinwand des
Körpers war wiederum wichtig für die Aktionisten Rudolf Schwarzkogler,
Günter Brus und Hermann Nitsch, aber besonders für die weiblichen
Vertreterinnen dieser Ausdruckskunst: Gina Pane, Carolee Schneemann und
die Österreicherin Valie Export. "Zeige deine Wunde" heißt eine Aktion
von Joseph Beuys, der dem erweiterten Kunstbegriff und seiner Vorstellung
von der damit eng zusammenhängenden "sozialen Plastik" als
Gesellschaftsutopie auch viele theoretische und pädagogische Beiträge
widmete. Seine poetischsten Aktionen aber waren mit schamanistischen
Leittieren verbunden: "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" von
1965 und die Aktion "Kojote" 1974, die eigentlich "I like America and
America likes me" hieß. Seine Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft,
einen Ausweg aus dem Kapitalismus durch die künstlerischen Kapazitäten
jedes Menschen, seine romantische Vorstellung eines Lebens und einer Kunst
ohne Verbote und Vorschriften hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Bei
aller Erneuerung ist er in dieser Utopie über Goethes Wunsch nicht
hinausgekommen, den Oskar Schlemmer in sein Manifest von 1923 einbaute:
"Wenn die Hoffnungen sich verwirklichen, dass die Menschen mit all ihren
Kräften, mit Herz und Geist, mit Verstand und Liebe sich vereinigen und
voneinander Kenntnis nehmen, so wird sich ereignen, woran jetzt noch kein
Mensch denken kann · Allah braucht nicht mehr zu schaffen, wir erschließen
seine Welt" . Ob die weltweite Vernetzung ein Beginn davon ist?
Zweifel müssen schon deshalb angemeldet werden, weil an jedem Netzpunkt
ein Mensch sitzt, und abgesehen davon, dass dieser selten Kunst betreibt,
steht der Missbrauch neben dem positiven Nutzen. Der junge chinesische
Künstler Cai Guo-Qiang, der eine entgrenzte Kombinatorik von
aktionistischen und konzeptuellen Methoden mit Hilfe neuester Techniken
anwendet, sieht die Folgen des mit Angst überwundenen Jahrtausendsprungs
im Computer allein in der Fehlerquelle Mensch begründet. Es ist nicht der
Computer Schuld, wenn verflachte, hübsche und oft lächerliche "World-Art"
gemacht wird, die zur Provinz in der ganzen ästhetisierten Umwelt abfällt.
Dieses "Abplätschern" jeglicher künstlerischer Leistung ist keine
Erweiterung des Kunstbegriffs mehr, sondern die Vertreibung aus dem
Paradies. Aber es hat immer Auswege gegeben · und Künstlerinnen wie
Pippilotti Rist, Dara Birnbaum, Valie Export oder die junge Uli Aigner
zeigen durchaus künstlerisch hochstehende Ergebnisse am Bildschirm.
Polemiken gegen die Kunst in ihrer Zeit · die frühesten kennen wir von
Platon gegen die illusionistische Kunst und von Bernhard von Clairvaux
gegen die Gotik · werden bleiben, die meisten Namen von Epochen und Stilen
sind Schmähungen gegen diese. Die Erweiterung des Kunstbegriffs zieht
daher nicht den Tod der Kunst nach sich, wie viele meinen, sondern sie ist
nur ein notwendiger Spiegel einer Krise der westlichen Kultur: aus Krisen
kann aber (lernend) wieder ausgestiegen werden. Das Ende der Avantgarde
bereitet schon insofern kein Kopfzerbrechen, als der Begriff selbst aus
dem Vokabular der Kriegstaktik des Carl von Clausewitz von 1832 stammt und
"Vorhut" bedeutet, somit ruhig auslaufen kann, auch wenn namhafte Kritiker
und Kunsthistoriker ihn unbeirrt weiter verwenden, genauso wie das
Vokabular des Faschismus mit dem, zugegebenerweise schon davor
vorhandenen, aber erst ab 1936 derart missbrauchten Wort "entartet" in
unserer Zeit viel zu bedenkenlos eingestreut wird. Das kann dem Sinn von
Gleichheit in der Ära der Nach-Moderne nicht entsprechen.
Erschienen am: 28.01.2000 |
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