Europas Gesichter und Geschichten: das Galerien-Kuratoren-Projekt "curated by_vienna 2011"
Vermessung der "Ostkunst"-Welt
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Die Machthaber und ihre Insignien sind gestürzt – und dann? Ausrangierte
Lenin-Denkmäler in Iosif Királys Fotoarbeit "Reconstruction –
Mogosoaia_Lenin and Groza_4". Foto: Galerie Charim
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Von Manisha Jothady
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Osteuropäische Kunstzentren wie Krakau, Moskau oder Budapest im Fokus einer Ausstellungsreihe.
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Zwischen Bewältigung der Vergangenheit und Neubeginn.
Kaum
eine Stadt im ehemaligen Ostblock, die kein Lenin-Denkmal besaß. Und
kaum eine Stadt im einstigen Osten, die heute noch eines besitzt. Denn
nach der Auflösung der Sowjetunion und der politischen Wende wurden
viele von ihnen demontiert oder zerstört. Der Künstler Iosif Királi
erinnert daran mit einer Fotoarbeit in der Gruppenausstellung "Communism
Never Happened" in der Wiener Galerie Charim.
Die mannigfaltigen Veränderungen im postkommunistischen Rumänien
bilden den inhaltlichen Kern der Schau, für die der rumänische Kurator
Ami Barak die Werke von neun Kunstschaffenden aus seinem Heimatland zu
einem zwischen Vergangenheitsbewältigung und Neubeginn pendelnden
Parcours eindrucksvoll versponnen hat.
Die Ausstellung ist Teil des von departure, der Kreativagentur der
Stadt Wien, geförderten Projekts "curated by_vienna". In seiner dritten
Ausgabe trägt es den Untertitel "East by Southwest" und erstreckt sich
unter der Kuratorenschaft von insgesamt 21 Experten über ebenso viele
Wiener Galerien. Vergangene Woche im Zuge der Viennafair eröffnet und an
deren inhaltliche Fokussierung auf die Kunst aus den CEE-Ländern und
der Türkei andockend, wird hier der Schmelztiegel Europa aus Sicht der
Kunst kartografisch neu vermessen. Das bedeutet auch, den Blick auf jene
Gesellschaften und Regionen zu lenken, die in der geopolitischen
Landkarte Europas nicht verankert sind, dessen multiethnisches sowie
-kulturelles Potenzial allerdings wesentlich mitprägen.
Zwischen zwei Mauern
So porträtiert die gebürtige Ägypterin Nil Yalta in der Hubert Winter
Galerie die Lebensbedingungen nordafrikanischer Immigranten, wohingegen
das Künstlerkollektiv Slavs and Tatars (zu sehen im Rahmen der
Gruppenschau bei Kerstin Engholm) mit recherche-orientierten Projekten
in das Gebiet "östlich der einstigen Berliner Mauer und westlich der
Chinesischen Mauer" vordringt, um Themen wie ethnische, kulturelle und
religiöse Zuschreibungen kritisch zu hinterfragen.
Peripherien, die längst keine mehr sind. Zur Qualität von curated
by_vienna 2011 zählt auch, dass nicht nur mittlerweile etablierte
Kunstzentren wie Moskau, Budapest, Krakau oder Zagreb ins Zentrum
rücken. Denn ein verstärktes Interesse insbesondere an der Kunst aus
Ost- und Südosteuropa setzte ohnehin bereits nach 1989 ein. Der Markt
war heiß auf neue Ware, Kunstgeschichten und -theorien wollten neu
formuliert oder aber erst geschrieben werden.
Als Neuankömmlinge in der Gesellschaft des Spektakels sahen sich
viele der einst vom westlichen Diskurs abgeschotteten Künstler,
Kuratoren und Theoretiker zunächst damit konfrontiert, vor dem
Hintergrund der jeweils eigenen Landesgeschichte Neuansätze zu
formulieren, ohne dabei vom längst etablierten europäischen
Kunstnetzwerk absorbiert zu werden. Heute sind sie vielfach selbst in
den Sog der Globalisierung geraten, nachdem der Kommunismus ihnen lange
Zeit sein Ideal der Internationale entgegengehalten hatte.
Folgt man den Ausführungen des polnischen Kunsthistorikers Piotr
Piotrowski, so existieren die zahlreichen unterschiedlichen
Kunstgeschichten Ost- und Südosteuropas, mit Ausnahme jener Russlands,
trotz der mittlerweile ansehnlichen Anzahl an Publikation innerhalb der
westlichen Kunstrezeption nach wie vor kaum. Ein Problem ist sicherlich,
dass viele wichtige Schriften bislang unübersetzt blieben, weswegen
sich ungeachtet der extrem heterogenen Entwicklungen der einzelnen
Länder bis heute das Label "Ostkunst" hartnäckig hält. Gerade solche
Pauschalisierungen verstanden die Kuratoren der curated by-Ausstellungen
zu unterlaufen. Sei es, dass René Block in der Galerie Krinzinger
Künstler aus der Türkei, aus Bulgarien und Rumänien versammelt, um ein
buntes Geflecht einer zwischen Tradition und Moderne, zwischen
politischer Wirklichkeit und persönlicher Freiheit angesiedelten Kunst
zu erzeugen. Sei es dass der Moskowiter Joseph Backstein in der Galerie
Grita Insam aktuellen künstlerischen Tendenzen seiner Heimat nachspürt
und so ein von Klischees befreites Stimmungsbild des postsowjetischen
Russlands evoziert.
Aufbruch über Grenzen
Die für die Bewohner hinter dem Eisernen Vorhang so prägende Kluft
zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre ist Kernpunkt der aus Polen
stammenden Künstler, die unter dem Titel "Close to Home" in der Lukas
Feichtner Galerie ausstellen. Die Beiträge von Anita Witkowska und Adam
Witkowski (Jahrgang 1978) sind allesamt in den eigenen vier Wänden
entstanden. Derart erinnert das Künstlerpaar an sämtliche Kollegen,
deren Werk einst als "inoffiziell" abgestempelt wurde und für lange Zeit
nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestehen konnte. Doch so sehr
der Umgang mit der historischen Vergangenheit in einzelnen Ausstellungen
dieses Großprojekts immer wieder durchsickert, so mannigfaltig
beschreibt der Kurs "East by Southwest" auch den Aufbruch in davon
losgelöste, nationale Grenzen überwindende Welten, die allesamt im
Zentrum stehen. Nur das Individuum selbst mag sich dabei noch als
peripher empfinden.
"curated by_vienna: East by Southwest"
bis 18. Juni in 21 Wiener Galerien
Info: http://www.curatedby.at
Printausgabe vom Donnerstag, 19. Mai 2011
Online seit: Mittwoch, 18. Mai 2011 18:03:00