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Sabine B. Vogel Mit seiner Videoinstallation Electric Earth hat Doug Aitken im vergangenen Jahr den internationalen Preis auf der Biennale Venedig gewonnen. Mit seinen Projektionen in den Kunst-Werken in Berlin und im Kunstmuseum Wolfsburg lässt er zur Zeit die Grenzen zwischen sich und dem Publikum fliessend werden, mit einem Sog von Bildern, der jede distanzierte Betrachtungsweise unterspült.
Die Welt im Zwischenraum

Zu Doug Aitkens Videoinstallationen

links: Doug Aitken (*1968), lebt und arbeitet in New York und Los Angeles
rechts: These Restless Minds, 1998 Videoinstallation (3 Laserdiscs), Raumaufnahme Secession Wien; Foto: Margherita Spilutti

Sein Studium am Art Center College of Design in Pasadena, Kalifornien, hat er nie beendet. Stattdessen drehte Doug Aitken schon früh Musikvideos, unter anderen für Iggy Pop, Fat Boys Slim oder µ-ziq. Teile dieser Videos integrierte er noch vor fünf Jahren in seinen Beitrag für die Gruppenausstellung ‹29’-0/East›, 1995, in der New York Kunsthalle und anschliessend im Kunstraum Wien. In dem ehemaligen Filmstudio in der Lower Eastside von New York zeigte Aitken das Video von dreissig schnell hintereinander geschnittenen, sekundenkurzen Auftritten junger Talente. In seinem Beitrag in Wien trat eine dieser Bewerberinnen im Video ‹Transformer› auf: Sie fährt eine Rolltreppe hoch, erreicht nach einigen Vorbereitungen – Schmink- und Modeaufnahmen – eine Art Paradies, eine perfekte Illusion. Schnitt. Der Film implodiert, läuft rasend schnell rückwärts und endet im Lichtkegel der Scheinwerfer.

Mittlerweile zieht Aitken keine Verbindungslinien mehr zwischen seinen künstlerischen und kommerziellen Projekten und lässt auch die beschriebenen medienspezifischen Reflexionen beiseite. Stattdessen konzentriert er sich auf ein Terrain, das in einem Grenzbereich liegt. Es ist ein schmaler Streifen mit eigenartigen Raum- und Zeiterfahrungen: Orte ‹somehow in limbo or outcast and passed by›, die als Zeit, als Erinnerung, als ‹liquid and flexible time› erfahren werden.

In-between places Ein Kompendium solcher ‹in-between places› – wie er sie nennt – ist ‹Electric Earth›, 1999, Aitkens höchst erfolgreicher Beitrag zur letztjährigen Biennale Venedig. Ein einziger Protagonist – von Aitken als letzter Mensch auf der Erde gedacht – läuft durch die leeren Strassen einer unspezifischen Stadt. Langsam kommt seine Umgebung in Bewegung, allerdings nicht durch Lebewesen, sondern durch elektrisch betriebene Dinge von Automaten bis zum Flugzeug. Nicht nur der Mann passt seinen Rhythmus dieser ‹electric earth› an, auch jeder Betrachter folgt der Strom- und maschinengeleiteten Wirklichkeit, denn Aitken zergliedert sein Video in einen hintereinander geschachtelten Parcours aus acht Leinwänden. Liess man sich auf den Rhythmus der fragmentierten Erfahrung ein, entstand ein kurzer Moment der Übereinstimmung zwischen Film und Wirklichkeit, ein Augenblick, der eine unsichtbare Grenze zwischen filmischer und eigener Realität zu überwinden schien.

Natürlich beeindrucken auch die perfekte Technik und aufwändige Inszenierung, Auswahl und Schnittfolge von Musik und Bildern. Aber erst das Spiel mit dieser unsichtbaren Grenze, an welcher Vorstellung und Wahrnehmung aufeinanderprallen, verleiht der Installation ihre schwindelnde Kraft, suggeriert Raum- und Zeiterfahrungen in Extremsituationen, als Geschwindigkeitsrausch oder in Todesnähe, aber auch weniger spektakulär in jenem Moment kurz vor dem Einschlafen, wenn der Tag auf die Traumwelt trifft.

Glass Horizon Müde heben sich die Augenlieder, blinzeln im Kampf gegen den Schlaf, um dann wieder hinunterzusinken. Überdimensional gross auf die Aus-senfassade der Wiener Secession projiziert, sind die Augen zugleich Einstimmung und nächtliche Ausstellungserweiterung von Doug Aitkens ‹Glass Horizon›, der ersten grossen Institutionsausstellung des jungen Kaliforniers. Der Titel schwebt fast programmatisch über der Ausstellung, denn die Metapher eines gläsernen Horizonts bestimmt den Gesamteindruck. Sein Interesse sei, sagt er in einem Interview, ‹eine dreidimensionale Nutzung von Video, in der die filmtechnischen Mittel eine unsichtbare Architektur aufbauen und ein System von Erfahrung schaffen, in der Architektur, Film und Musik zu gleichen Teilen Bedeutung zukommt.› Es gehe darum, ‹das Glas zu durchbrechen und einzutreten.›

Farbige geometrische Formen im Teppichboden und in den Deckengläsern gliedern den Raum, ohne Trennungen aufzubauen. Mittendrin steht ein grosses X aus vier bilddurchlässigen Leinwänden, auf die einander durchdringend ‹Hysteria›, 1998, projiziert ist: Vierzig Jahre Popgeschichte, das ‹Publikum als Landschaft› (D.A.), die Revolutionen in der Musik gespiegelt im Verhalten der Fans, vom gesitteten Kollektivkreischen der sechziger Jahre bis zum Sprung des neunziger-Jahre-Grungetypen von der Bühne in die Hände der Fans.

These Restless minds Der Lärm dieser Fans begleitet den Weg zu ‹These restless minds›, 1998. Drei Monitore, im engen Kreis von der Decke hängend, zeigen Bilder von Landschaften, Städten, Verkehr, Menschen und Maschinen. Dazu sprechen Auktionare endlose Zahlenreihen, die sich wie ein beschwörender Gesang über die Bilder legen: die Welt in Verkaufspreisen? Das Fan-Kreischen und Zahlengemurmel begleitet den Gang zu den beiden neuen, den Ausstellungstitel vorgebenden Videos ‹Glass Horizon I und II›. Jede dieser Doppelprojektionen bespielt die beiden Seiten einer Leinwand. Aber anders als beispielsweise Stan Douglas, der sich dieser Möglichkeit bediente, um die ausgeblendeten Bilder einer Jazz-Session zu ergänzen, spielt Aitken hier mit direkten bildlichen Gleichsetzungen. ‹Blow Debris (Glass Horizont I)› projiziert auf die eine Seite einen einsamen nackten Tennisspieler, auf die andere die Ballmaschine und die Bälle am Netz. Das Netz wird dabei zur Projektionsfläche, welche beide Spielhälften teilt, die Musik und der Ballaufschlag sind dramaturgisch perfekt aufeinander abgestimmt. Auch in ‹Blow Debris (Glass Horizont II)› ist der Protagonist nackt, wobei er diesmal in ein Auto mal ein-, mal aussteigt, mal auf Sand-, mal auf Asphaltboden. Es sind nur Details, manchmal Bruchstücke von Sekunden, in denen eine irreale Welt ins Bild rückt: Wenn in der Grossaufnahme der Fuss den Asphalt berührt und der Sand durch die Zehen rinnt, wenn die Bälle aus dem Dunkel der Ballmaschine geschossen kommen, wenn ein schneller Zoom auf das Gebirge, auf die absurd-reale Ansammlung Tausen-der identischer Einfamilienhäuser zuzischt, aber auch, wenn die endlosen Zahlenreihen auf die Bilder des amerikanischen Alltags treffen.

Doug Aitken ist vor wenigen Jahren beim Surfen fast ertrunken und war vier Tage lang bewusstlos. Man ist geneigt, dieser existentiellen Erfahrung in den Filmen nachzuspüren, auch wenn Aitkens Filme nicht auf biografischen Momenten basieren, anders als beispielsweise diejenigen von Stan Douglas kein Interpretationsgerüst aus einem Mosaik von Hintergrundwissen, Anspielungen und Querverbindungen anbieten. Stattdessen baut Aitken auf die erzählerische Eigendynamik der filmischen, hart geschnittenen Bilder.

Liquid Time Auch wenn Aitken an so aufgeladenen Orten wie dem über Jahre streng abgeriegelten, vollautomatisierten Diamantenabbaugebiet in Namibia, ‹Diamond Sea›, 1997, der Insel Montserrat ein Jahr nach dem verheerenden Vulkanausbruch, ‹Eraser›, 1998, oder wie jener Gegend in Guyana filmt, wo die Anhänger des Reverend Jim Jones Ende der siebziger Jahre kollektiven Selbstmord begingen, ‹Monsoon›, 1995, werden die damit verbundenen spektakulären Geschichten nicht in Titeln, Texten oder Dialogen mitgeliefert. Sie ruhen in unerwarteten oder unerklärlichen Details der gefilmten Landschaft. Aitkens Methode ist ein Schauen und Warten – wie beispielsweise in ‹Monsoon›, wo er bis zum grossen Regen bleiben wollte. Die Landschaft schreibt zugleich das Drehbuch und stellt das Sujet, ist Hauptdarstellerin oder Dialogpartnerin jener Welt, in der Zeit als fragmentierte, mal beschleunigte, mal verlangsamte Erfahrung existiert. ‹Man hat ungefähr vier Erinnerungen von einem ganzen Jahr, die Zeit schrumpft extrem zusammen – auch die Zeit eines Mediums, von Fotografie, Film oder Installation›.

Darin liegt die enorme Suggestionskraft von Aitkens Werken, in denen man durch Träume zu wandern meint, wo reale und surreale Momente eine eigene Welt schaffen. Eine Erfahrung, welche die Betrachter nicht nur sehen, sondern auch erleben können: ‹These restless minds› muss wie ein Ring umrundet werden, um ein vollständiges Bild zu erhalten. ‹Glass Horizon› zwingt uns, immer wieder die Seiten zu wechseln. Erfahrungszeit – die Aitken als ‹liquid and flexible time› bezeichnet – und Raumfragmente treffen aufeinander und öffnen jenen Bereich, den die Augen auf der Fassade der Wiener Secession verbildlichen: dieser kurze Moment zwischen Eintritt in eine irreale Welt und der Rückkehr in die wache Wahrnehmung.

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Ausgabe: 04 / 2001
Ausstellung: ( - )
Institution: Kunstmuseum Wolfsburg (Wolfsburg)
Autor/in: Sabine B. Vogel
Künstler/in: Doug Aitken

 

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