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vom 17.05.2005 - Seite 020
Im Stelenwald der Erinnerung

Seit vergangenem Donnerstag ist im Zentrum Berlins das Denkmal für die ermordeten Juden Europas zugänglich. Die OÖN sind durch den Stelenwald der Erinnerung gegangen.

VON STEFAN MAY

"Herbst geworden. 1. September - Septemberaussiedlung mit ihren Schrecken. Eigenes Kapitel. Braucht nicht besonders hier vermerkt zu werden. Wenn so etwas möglich war, was gibt es dann noch? Wozu noch Krieg? Wozu noch Hunger? Wozu noch Welt?"

Die Worte stammen aus dem Tagebuch des Wiener Schriftstellers und Journalisten Oskar Rosenfeld. Als hastig hingeworfene Buchstaben springen sie dem Besucher aus einer erleuchteten Stele im Boden entgegen.

2711 Betonquader

Die Stele ist durchgängiges Zeichen des "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" von Peter Eisenman und Richard Serra. 2711 Betonquader sind es, die in unterschiedlicher Größe wie ein versteinerter Wald über fast 20.000 Quadratmeter welligen Boden wogen.

Die geometrische Figur setzt sich am unterirdischen "Ort der Information" in jedem Raum fort. "Wumpferln" hatte sie der österreichische Bildhauer Alfred Hrdlicka einmal genannt. Doch beim Durchstreifen der schmalen, von den Stelen gesäumten Gassen beschleicht den Besucher tatsächlich jenes Gefühl von Verlassenheit, das die Situation der von aller Welt allein gelassenen Juden im Dritten Reich spürbar machen soll. Vielleicht wird davon weniger zu empfinden sein, wenn sich jetzt große Besuchermengen durch den Stelenwald zwängen.

Das Stelenfeld ist rund um die Uhr zugänglich. Der Ort der Information nur tagsüber. In den insgesamt 250 Besucher fassenden vier Räumen unter dem Mahnmal wird Betroffenheit durch Personalisierung erzeugt: Im "Raum der Dimensionen" kontrastieren die Notizen, Tagebucheinträge und Abschiedsbriefe einzelner in den beleuchteten Bodenvitrinen mit den ungefähren Opferzahlen aus 28 Ländern, aufgeschrieben an den Wänden rundum.

Im "Raum der Orte" begegnet man 200 Stätten der Verfolgung und Vernichtung. Darunter Schloss Hartheim in Oberösterreich in alten Schwarz-Weiß-Bildern, Adresse der Euthanasie in den frühen 40er- Jahren. 18.300 Menschen wurden dort als "lebensunwert" vergast und verbrannt.

Im "Raum der Namen" werden die Kurzbiografien von derzeit 800 jüdischen Opfern verlesen, ihre Namen an die Wände projiziert. Wiederum wird die vom Einzelschicksal ausgelöste Betroffenheit vor dem Hintergrund des Gesamtverbrechens multipliziert. Eine neue Ahnung vom Ausmaß des Mordens steigt auf, denn eine Verlesung der Namen aller Opfer in der hier präsentierten Form würde sechs Jahre, sieben Monate und 27 Tage dauern.

Angeschlossen ist ein Raum mit Terminals, wo die von der israelischen Erinnerungsstätte Yad Vashem recherchierten drei Millionen Opfernamen abgerufen werden können. Im "Raum der Familien" werden Einzelschicksale in einen anderen Zusammenhang gebracht: 15 jüdische Familien aus unterschiedlichsten Kulturen, Ländern und Milieus in Europa, die den Holocaust nicht überlebt haben.

Schicksal einer Familie

Eine von ihnen ist die Familie Turteltaub aus Dornbirn. Der Vater war mit seinen Eltern aus der ärmsten Region der österreichisch-ungarischen Monarchie, aus Galizien, in den äußersten Westen gekommen und hatte hier ein Textilgeschäft eröffnet. Auf Fotos werden die beiden Söhne 1936 in Lederhosen auf Dreirädern gezeigt. Wenige Jahre später will die Familie nach Südamerika fliehen, wird aber in Italien interniert. Sie darf sich schließlich in der Toskana ansiedeln. Wenig später marschiert die deutsche Wehrmacht ein. Auf der Stele der Familie Turteltaub heißt es abschließend: "1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert. Niemand überlebte."

Ein Jugendlicher begeht das Holocaust-Mahnmal in Berlin auf seine Art. Foto: Reuters

Im Untergrund: der "Ort der Information" Foto: dpa


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