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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst 
08. September 2004
22:10 MESZ
Von
Bert Rebhandl aus Berlin



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Kunst-Werke Berlin
Bis 7. November
 
Foto: Kunst-Werke Berlin
In der "Motorstadt" Detroit führen die axialen Linien in ein "totes" Zentrum hinein - Bilder, von Hortensia Völckers (ehemals Wiener Festwochen) kuratiert.

Das Herz liegt, wo der Rand ist
Ausstellung über die "Entvölkerung" der modernen Stadträume in den KunstWerken Berlin

Die deutsche Bundeskulturstiftung widmet der "Entvölkerung" der modernen Stadträume eine bemerkenswerte Themenausstellung. Motto: Die Peripherie lebt!


Als Leipzig noch keinen Interkontinentalflughafen hatte, dafür aber Eisenbahnverbindungen in alle Richtungen der Weimarer Republik, lebten in der Stadt ungefähr 700.000 Menschen. Drei politische Systeme und einige Eingemeindungen später hat sich die Einwohnerzahl auf eine halbe Million Menschen reduziert. Leipzig nimmt ab, so wie weltweit knapp 400 größere Städte hauptsächlich in den westlichen Industrienationen.

Handelt es sich bei diesen Bevölkerungsverlusten um normale Schwankungen, oder zeigt der globalisierte Kapitalismus in Leipzig sein unverfälschtes Gesicht? Die Ausstellung Schrumpfende Städte/ Shrinking Cities in den Berliner KunstWerken tendiert zu der zweiteren Annahme, gibt jedoch keine erschöpfenden Auskünfte. Es handelt sich dabei ja nicht um eine Veranstaltung des Statistischen Zentralamts, sondern um ein Initiativprojekt der deutschen Bundeskulturstiftung, also um eine Kunstangelegenheit in jenem weiten Sinn, der heute für viele Ausstellungen gilt.

Schrumpfende Städte ist über weite Strecken eine Dokumentation mit künstlerischen Mitteln. Vier Stadträume werden näher untersucht: Detroit, die Automobilmetropole im Mittleren Westen der USA; Ivanovo, eine Textilregion in Russland; der Ballungsraum mit den Großstädten Manchester und Liverpool in England; und das Gebiet Leipzig/Halle in Ostdeutschland.

Eine Videoinstallation im Eingangsbereich stellt zuerst einmal die Ähnlichkeit her: Langsam fährt jeweils ein Auto mit einer Kamera durch Straßen, entlang derer vorwiegend Einfamilienhäuser oder Brachen liegen, manchmal gepflegt und geschützt vor zudringlichen Blicken, dann wieder in einem Stadium des Verfalls und der zunehmenden Verwilderung.

Detroit als Exempel

Besonders interessant und attraktiv ist Detroit, nicht nur weil viele Orte aus dem Hollywoodfilm 8 Mile mit dem Rapper Eminem gut bekannt sind, sondern auch weil hier die Paradigmen am härtesten aufeinander treffen: eine alte Industriestadt, deren Menschen am Fließband gearbeitet und in entsprechenden Quartieren gelebt haben und die dann vor den Unruhen in den Innenstädten an die Peripherie geflüchtet sind, wenn sie es sich irgendwie leisten konnten.

Das Ergebnis ist eine endlose unspezifische Gebäudelandschaft, während Luftaufnahmen die "inner city" als ein weit gehend aufgegebenes, allmählich zuwachsendes Areal zeigen. Die Rückkehr der Natur ist aber nur dort ein Vorteil, wo die Fragen des Überlebens so dringlich werden wie in Russland. Dort zählt das Sammeln von Beeren und Pilzen zu den täglichen Verrichtungen, während die Bürger versuchen, in den Institutionen aus der Zeit der Sowjetunion ein neues, zivilgesellschaftliches Leben zu organisieren.

In den schrumpfenden Städten entsteht eine eigene Ökonomie der "Ausschlachtung", die in Deutschland vermutlich deswegen am geringsten ausgebildet ist, weil das relative Wohlstandsniveau hier immer noch hoch ist. Hartz IV ändert daran weniger, als die Demonstranten glauben wollen, die in der sanierten Innenstadt von Leipzig als Volk auftreten.

Auch die "Avantgarde des Schrumpfens", von der die Veranstalter unter der Leitung des Architekten und Publizisten Philipp Oswalt in dem umfangreichen Katalog schreiben, hat in Deutschland noch ein wenig Rückstand. Aber es gibt sie schon, die "Raumpioniere" (Uwe Matthiessen), die – wie die Clubszene – dort hingehen, wo andere weggehen.

In Detroit hat Techno eines seiner globalen Zentren, und auch die Kunst reagiert auf den Verfall produktiv: Tyree Guyton begann, leere Häuser in der Heidelberg Street in der East Side von Detroit zu eigenwilligen Themenlandschaften umzuarbeiten. Das "Baby Doll House", das zwischen 1986 und 1988 entstand, sollte nicht nur von den verwahrlosten Kindern der Umgebung handeln, sie waren auch in die Kunstproduktion integriert.

Der deutsche Schriftsteller W.G. Sebald hat in seinem Buch Die Ausgewanderten das ästhetische Faszinosum der sterbenden englischen Industrielandschaften beschrieben: "In Moss Side und Hulme gab es ganze Straßenzüge mit vernagelten Fenstern und Türen und ganze Viertel, in denen alles niedergerissen war, sodass man über das derart entstandene Brachland hinweg vo^rausblicken konnte auf die ungefähr eine Meile noch entfernte, hauptsächlich aus riesigen viktorianischen Büro- und Lagerhäusern zusammengesetzte, nach wie vor ungeheuer gewaltig erscheinende, in Wahrheit aber, wie ich bald schon herausfinden sollte, beinahe restlos ausgehöhlte Wunderstadt aus dem letzten Jahrhundert."

Er meinte das 19. Jahrhundert, in der die meisten westlichen Großstädte jene Gestalt angenommen haben, die sie nun allmählich wieder verlieren. In den Ländern, in denen der Kapitalismus eine dynamische Aufholjagd veranstaltet, ist dies anders: Brasilien oder China sind von Landflucht geprägt. Dort verändern sich die Städte durch Ballung. Die "shrinking cities" sind nicht die Signatur der globalisierten Wirtschaft, sie sind nur ein Indiz dafür, dass sich das Ordnungssystem von Zentrum und Peripherie dramatisch ändert, das eine Moderne lang überraschend stabil gewesen war. Glücklich ist, wer jetzt noch einen Schrebergarten hat, der auf die Großmutter gemeldet ist. Alles andere ist eine Hypothek. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.9.2004)


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