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Das Glück der Erde auf dem Rücken eines Nilpferds
Kunstbiennale Venedig
Und plötzlich diese Untersicht
Von Thomas Wagner, Venedig

10. Juni 2005 Soviel Abschied war nie. Doch nie war er so heiter, so voller Zuversicht, nie entschiedener aus auf die Freiheit, die entsteht, wo Enge und Beklemmung weichen und frische Luft hereinströmt. Lag - nicht nur meteorologisch - noch vor zwei Jahren die ganze Überhitzung und Stickigkeit des Kunstbetriebs über der Lagune, so darf man nun aufatmen.

Dabei scheinen die Aufräumungsarbeiten noch nicht beendet. Denn es wird, gleich hinter dem Eingang zu den Giardini, dem angestammten Kernland der Biennale di Venezia, gesägt und gehämmert, gemeißelt und gestemmt. Ob die Maurer nicht rechtzeitig fertig geworden sind mit der Arbeit an dem massiven, stockwerkhohen Würfel aus Betonsteinen? Ob die Pläne falsch waren, oder ob sie selbst einen Fehler gemacht haben?

Dogmatismus zu Staub

Der Höhepunkt: Ein Berg als Österreichs Pavillon

Keiner weiß es. Jedenfalls bauen die Maurer nicht auf - sie spitzen weg, sägen ab, werfen hinunter, schleppen fort. Vor zwanzig Jahren haben Künstler wie Sol LeWitt solch minimalistische „White Cubes” in Skulpturenparks oder Museen aufgestellt. Nun beginnt Monica Bonvicini mit dem Abräumen: Bewußt, Schicht für Schicht wird der Würfel geschleift. Und mit ihm die Bastion einer Kunst, die er befestigte. Ob das im Hinblick auf den Minimalismus gerecht ist oder nicht, spielt keine Rolle. Alles, was nach Dogmatismus ausschaut, werde Staub, damit aus Staub Kunst werde - und die Bewegungsfreiheit wachse.

Wer sich aber sorgt, in Venedig werde nur zerstört und abgetragen, der eile zum anderen Ende der Gärten. Dort wird auch er aufatmen, steht er doch mit einem Mal vor einem veritablen Bergmassiv. Und plötzlich diese Untersicht. Dorthin, wo man bislang den 1934 von Josef Hoffmann erbauten österreichischen Pavillon vermutete, hat Hans Schabus einen Berg gesetzt. Nur hier und da ragen noch Teile des Baus aus dem in seidigem Dachpappengrau schimmernden Massiv. Die Alpen rücken nach Italien vor. Was könnte das Land der Berge besser repräsentieren als ein Berg, einer, der nicht einmal einschüchtert, wie er so daliegt, einfältig und vielfältig zugleich, kantig, aber nett. Auch ist es der erste Berg, der sich nur von innen besteigen läßt. „Das letzte Land” nennt Hans Schabus sein Berg-Werk, das Natur nur spielt und sich dem Drang des Tourismus sogleich fügt, ein feines Kunst-Berg-Werk, das Bau und Höhle und Hülle und Haut zugleich ist.

Das ist der Höhepunkt

Ein veritables Bergmassiv: Planskizze für Österreichs Pavillon

Das ist der Höhepunkt, so oder so. Denn zwischen Kubus und Berg tun sich alle Nationen schwer, gegenüber den Ausstellungen im Padiglione Italia und den Arsenalen zu bestehen. Zwar schallt es einem beim Betreten des deutschen Pavillons von herumtollenden Aufsichten ausgelassen entgegen: „Oh, this is so contemporary, this is so contemporary...” Doch selbst wenn man das Echo des Ohrwurms überall vernimmt: Tino Sehgal hat sein Publikum schon in bessere Geschichten verstrickt. Was ein Ereignis hätte sein können, das man nicht so leicht vergißt, schrumpft zum Show-Effekt.

Das ändern auch Gespräche über Ökonomie nicht, die nebenan zu führen sind. Zu unentschieden wirkt überdies die Kombination mit der auf der Grenze zwischen Malerei und Skulptur balancierenden Installation „Der Tisch, der Ozean und das Beispiel” von Thomas Scheibitz, zu umstandslos wird sie zur Kulisse des slapstickhaften Auftritts. Und für Scheibitz' Gemälde, auch sie rätselhafte Grenzgänger zwischen Modell und Autonomie, fehlt der Resonanzraum.

Frankreichs Pavillon als Casino

Der Berg von innen

Wo sich zwei ältere Gentlemen für Britannien in sandfarbenen Anzügen in den Ornamenten ihrer Bilder verlieren (man hätte sie viel lieber mal wieder singen hören), wo Frankreichs Pavillon äußerlich zum „Casino” mutiert, das Gehäuse von Annette Messager aber allzu poetisch belüftet wird, wo endlose belgische Laborwindungen am Ende nur wieder beim Bier ankommen und sich vieles im Harmlosen verirrt, da versucht Altmeister Ed Ruscha im neoklassizistischen amerikanischen Pavillon unter dem Titel „Course of Empire” dem Zusammenwirken von Entwicklung, Erstarrung und Angst auf die Schliche zu kommen. Ruscha bedient sich dazu einer Serie von Gemälden aus dem Jahr 1992, die er fortschreibt: Leere Gebäudehüllen unter düsterem Himmel, auf denen Worte wie „Tool&Die” prangen, expandieren und mutieren. Was eine - freie - Handelsschule war, ist nun eingezäunt von Angst.

So feiert die 51. Biennale viele Abschiede, überraschende und beklemmende, heitere und befreiende - von der Dominanz der Länderpavillons, von der chaotischen Überfülle vieler ihrer Vorgängerinnen, von der Befürchtung, die Kunst der Gegenwart verliere sich in Event und Spektakel, von der Illusion, Engagement und guter Wille seien in der Kunst schon genug.

Im besten Sinne übersichtlich

Italiens Pavillon

Und sie räumt auf mit dem Irrtum, bei einer solchen Großveranstaltung könnte es keine ebenso präzisen Ausstellungen geben wie in einem Museum. Sah man bei der vorigen Ausgabe die Kunst im Kuratoren-Dickicht verschwinden, so wirkt die Biennale nun im besten Sinne übersichtlich und klar gegliedert. Die Werke - ob es sich um Malerei, Skulptur, Installation, Fotografie, Video oder Performance handelt - finden die ihnen angemessenen Präsentationsweisen. Und: Diese Biennale läßt die Kunst atmen und atmet Kunst - und man kann nicht behaupten, das täte nicht wohl.

Die Biennale schafft Raum. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie schaut zurück, wo es Wichtiges festzuhalten gilt, und sie richtet den Blick nach vorn, um viele Facetten unserer Welt einzufangen und unter die Lupe zu nehmen. So kann die Kunst in erträumte Paradiese locken, um den Betrachter im nächsten Moment in blutige Höllenbezirke zu stürzen. Daß dies auf erstaunlichem Niveau geschieht, wohlgeordnet, aber nie domestiziert, ist zuallererst das Verdienst der beiden Kuratorinnen Maria de Corral und Rosa Martinez.

Reservoir der Erfahrung

Ein Kronleuchter aus Tampons (Joana Vasconcelos, Portugal)

Mit der Schau „The Experience of Art” macht Maria de Corral die Werke wieder erlebbar, bringt sie selbst als Reservoir der Erfahrung zum Sprechen. Langsam und artikuliert, aber alles andere als langweilig. Rosa Martinez knüpft mit „Always a little further” in den Arsenalen daran an, wohl wissend, daß Kunst die Welt nicht verbessern, uns aber lehren kann, wie wir die Welt besser sehen, genauer erkunden, treffender beschreiben können. Oder wie, was einen bedrückt, sich auf die leichte Schulter nehmen läßt.

„Admit nothing, Blame Everyone” hat Barbara Kruger auf die Fassade des italienischen Pavillons geschrieben. Drinnen surrt, unter der Decke baumelnd, eine Bohrmaschine - schwarz und bedrohlich. Gleich dahinter löst sich das Bild der Welt in sanften, fast malerischen Pixeln auf. Die Fotografie betreibt bei Thomas Ruff ihre eigene Aufhebung. Dazwischen ruht - gipsweiß und fremd - das Innere eines Treppenhauses, das Rachel Whiteread abgegossen hat. Beide Positionen sind bekannt. Und doch finden sie am Beginn von Maria de Corrals „Kunsterfahrungen” trefflich zusammen. Abschied auch hier: von der Vertrautheit der äußeren Gestalt der Dinge, von einem leeren Innen, das wir einmal selbst anfüllen konnten mit Leben. Melancholie liegt über dem Saal. Das Wiedererkennen zerstäubt im feinen Nebel der Pixel.

Gegen den Minimalismus gefochten

Ausgezeichnet: Thomas Schüttes Skulptur in Venedig

Von Thomas Schütte, der in den Figuren der Nachkriegsbildhauer das Ruinöse hervorkehrt (siehe auch: Goldener Löwe von Venedig für Thomas Schütte), über Francis Bacon, Philip Guston, über Marlene Dumas führt eine Reihe bis zu Tapies. Daneben wird abermals gegen den Minimalismus gefochten, ventiliert Miroslaw Balka die Folgen buchstäblich, indem er aus einem Tunnel eine windige Unterführung macht. Nicht weit davon gießt die Abendsonne ihr letztes Gold aus über dem Palast - dem der Republik, im Herzen Berlins (Tacita Dean). Nebenan schlafen derweil in China die Arbeiterinnen in der Fabrik. Über allem aber donnert in bester Technicolor-Qualität der Trailer zu einem Film hinweg, wie ihn Hollywood noch nie gesehen, aber schon tausendmal gedreht hat: Francesco Vezzolis „Caligula”, die schönste Travestie, seit es Dolby-Surround-Sound gibt.

Fast nahtlos geht Rosa Martinez in den Arsenalen „immer etwas weiter”. Auch hier schafft der Abschied Raum, löst er so manchen Krampf: Es ist gutes Porzellan, voll edler Dekors. Tassen und Teller, eine Kanne, hier eine Vase, dort ein Glöckchen, ein Henkel, geformt wie ein halbes Herz, ein anderer wie ein Ohr - so steht es, dem Gebrauch entrückt, im Video „Be The First To See What You See As You See It” von Runa Islam auf weißen Sockeln.

Auf dem Rücken eines Nilpferds

Reges Interesse für Thomas Schüttes Skulptur

Zärtlich streicht eine Frau über den Rand einer Tasse oder läutet ein Glöckchen - um es im nächsten Moment einfach fallen zu lassen, die Tasse sanft über den Rand des Tischs zu schieben. Krachend zerspringen sie auf dem Boden. Liebevoll genau wird alles betrachtet und benutzt - bewußt und ohne jeden Anflug von Aggression vom Sockel gestoßen. Abschied von den Fetischen? Abschied von der Nutzlosigkeit der Kunst? Manchmal ertrinkt die Welt der Ähnlichkeit an der Oberfläche der Bilder. An der nächsten Ecke aber sitzt eine Frau auf dem Rücken eines Hippopotamus und liest und pfeift und liest und pfeift.

Mit leichter Hand, fast spielerisch gelingt es Rosa Martinez, die Raumfluchten der Arsenale zu gliedern und zu rhythmisieren. Wie von selbst scheint man von Bild zu Leinwand, von einer hellen in eine abgedunkelte Zone hinüberzugleiten: Wenn die drei Russen von „Blue Noses” des Lebens Allerlei, absurd zum Slapstick verkürzt, in ein Dutzend Kartons projizieren, daß es nur so menschelt und kichert, darf man schmunzeln; wenn neben Mona Hatoums meditativem Sandkreis Gregor Schneider mit „Cube Venice 2005” das Modell einer Arbeit vorführt, die mitten auf dem Markusplatz einen der Kaaba von Mekka ähnlichen schwarzen Kubus vorsah und angeblich aus politischen Gründen verboten wurde und im Katalog nicht dokumentiert werden durfte, so muß man nachdenken, was daran stimmen könnte, was wir für möglich oder unmöglich halten. Der Schrecken blutiger Beschneidungen bleibt ebensowenig aus wie das Lächeln, wenn die Kuratorin uns zusammen mit Pilar Albarracin augenzwinkernd mit „Viva Espana” entläßt.

Das ist unsere Welt

Hoch hinaus mit China

All das ist also unsere Welt. Mit alldem schlagen wir uns herum, bei unseren kleinen Reisen um den Planeten im Jahr 2005. Wir können mit Olaf Nicolai in den Nachthimmel schauen und die „Tränen des Hl.Laurentius” suchen, Louise Bourgeois' blankpolierte Raumknäuel bestaunen oder Mariko Moris Raumschiff besteigen, um zu träumen. Wir treffen auf alte und auf neue Rituale. Bis wir auch sie verabschieden.

Oder bis wir noch näher an die Kunst und an das Leben in ihr heranrücken: was gelingen kann, wenn man den litauischen Pavillon sucht, um Jonas Mekas dabei zu belauschen, wie er in den Zeiten schierer Größe das Kleine und das Persönliche zelebriert, wie er erklärt, weshalb man Wein zur Produktion braucht und nicht weiß, wer man ist. „Man darf die Musen nicht betrügen”, sagt er - und lächelt.


51. Biennale di Venezia, bis 6. November. Ein Kurzführer kostet sieben Euro, der dreibändige Katalog 60 Euro.

Text: F.A.Z., 11.06.2005, Nr. 133 / Seite 29
Bildmaterial: AP, Hans Schabus, Foto: Bruno Klomfar, Hans Schabus, Hans Schabus, Foto: Bruno Klomfar , REUTERS
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