Die
Ausstellung über den Aktionisten, Kommunarden und Maler Otto Muehl hat Angst vor
sich selbst
Ein Loch ist im
Katalog. Es hat in etwa einen Durchmesser von einem halben Zentimeter und
befindet sich auf Seite 210. Ein Bild von 1974 ist auf dieser Seite zu sehen,
ein Bild von den Anfängen der Künstlerkommune im burgenländischen Friedrichshof.
Die Idylle könnte nicht sonniger sein: Ein kleines Grüppchen sitzt auf
Strohballen hinterm Haus, unter ihnen ein nackter Mann, die Arme wie im Tanz
erhoben. Nur eine Kleinigkeit stört das Bild. Statt eines Gesichts ziert den
einen der abgebildeten Zuschauer auf den Strohballen ein Loch. Zufall oder
nicht: Auf Seite 209, also auf der Rückseite, geht das selbe ausgestanzte Loch
mitten durch das Wort "Sexualität".
Dass hier jemand seine
Persönlichkeitsrechte geltend machte und der Katalog nachträglich zensiert
werden musste, ist eine beinahe zu vernachlässigende Kleinigkeit in einer
Ausstellung, die bereits vor der Eröffnung in die Schlagzeilen geraten war, die
verschoben wurde und nun doch unter massivem Sicherheitsschutz und von heftigen
Diskussionen begleitet im Wiener Museum für Angewandte Kunst stattfindet. Otto
Muehl ist sie gewidmet, dem 1925 geborenen österreichischen Aktionisten, Maler
und Kommunarden, der in den neunziger Jahren rechtskräftig verurteilt wurde und
im Gefängnis saß.
Im Zuge der geplanten Ausstellung meldeten sich mehr
und mehr ehemalige Kommunen-Mitbewohner, die ihm sexuelle Nötigung und
psychische Manipulation vorwarfen - Beschuldigungen, wegen denen Muehl 1991
bereits zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt worden war.
Grenzlinie
von Leben und Kunst
"Otto Muehl" schreibt er sich mittlerweile, lebt
schwer krank (er leidet an Parkinson) in einer Kleinkommune an der
portugiesischen Algarve und reiste deswegen auch nicht zur Eröffnung der Schau
an.
Dennoch bringt Muehl immer noch halb Österreich gegen sich auf - aus
ähnlichen Gründen, aus denen der Unbekannte auf dem Foto auch (oder gerade) 30
Jahre später nicht wiedererkannt werden wollte: Beim Überschreiten der
Grenzlinie zwischen Leben und Kunst war Muehl einen Schritt weiter als andere
gegangen. Er zeigte der von ihm so genannten "Wichtelgesellschaft" den nackten
Hintern, bewehrte seine Mitstreiter mit Schnullern, um gegen die
"Erwachsenenwelt" anzutreten und schiss (in der "Uniferkelei") buchstäblich auf
sie.
Er drehte ihr den Rücken zu, gründete am Friedrichshof seine eigene
Miniaturgesellschaft, in der er dann selbst Gottvater mimte und seine (teilweise
minderjährigen) Töchter an der Hand zu seiner Ruhestätte führen durfte. All das
natürlich unter dem Label Kunst.
Die Kunst, die das Wiener MAK jetzt in
einer Hochzeit der Musealisierung des Wiener Aktionismus (die Wiener Museen
überbieten sich derzeit geradezu mit Schauen über Hermann Nitsch, Günter Brus
und jetzt also Muehl) zur Disposition stellt, ist also nicht vom Leben ihrer
Beteiligten zu trennen.
Auch wenn gerade dies das Ziel von MAK-Direktor
Peter Noever und Kuratorin Bettina M. Busse zu sein scheint. Das Ergebnis: eine
Retrospektive, die aus Angst vor sich selbst rund um Lücken und Löcher
manövriert, die wenig klärt und noch weniger erklärt. Die wieder aufflammenden
Diskussionen um Muehl waren überaus vorhersehbar. Es hätte am MAK gelegen, sie
dieses Mal in eine andere, verantwortungsvollere Richtung zu lenken.
Als
Claus Peymann Muehl nach seiner Haftentlassung vor sechs Jahren auf die Bühne
des Burgtheaters holte, lag dies noch im Sinne eines Hauses, dem es mehr ums
Stochern in gesellschaftlich neuralgischen Punkten ging als um deren
Verhandlung. Die Betriebsräte protestierten, Haiders FPÖ machte eine "dringliche
Anfrage" im Parlament. Und wieder einmal hatte die Alpenrepublik einen ihrer
heiß geliebten Kunstskandale - auch wenn Muehls tattriger Auftritt auf der
Burgbühne zum peinlichen Theaterständchen wurde.
Lücken,
Löcher und Gestocher
Mit seiner Retrospektive beschreitet das MAK jetzt
unverständlicherweise einen ähnlichen Weg. "Leben / Kunst / Werk - Aktion Utopie
Malerei 1960-2004" heißt der nach Protesten abgeänderte Titel der Schau, doch im
Mittelpunkt steht weder die Zeit des Aktionismus - also nicht jene
Kunstrichtung, in der Muehl, Brus, Schwarzkogler oder Nitsch aus dem
österreichischen Nachkriegsmief heraus international Bahnbrechendes und
Bedeutsames schufen, und die natürlich längst kunstgeschichtlich sakralisiert
ist - erst recht nicht die Zeit der Kommune am Friedrichshof, sondern Muehls
Malerei. Von den anfänglichen akademischen Versuchen über Material- und
Schüttbilder, die Porträtmalerei, bis hin zu den
electric paintings, den
simplen Computeranimationen der letzten Jahre.
In kaum einem dieser
Genres zeigt sich ein wirklich originärer Maler: Statt dessen einer, der um die
Leitmotive Sexualität und diverse Körperöffnungen und -funktionen kreist, der
sich an Cézanne und van Gogh abarbeitet, der aus dem Rahmen tritt und erst
später (1974) wieder zur Malerei zurückkehrt.
Landschaftsbilder vom
Friedrichshof entstehen, 1977 eine Reihe von Bildern, die sich mit Picasso
auseinander setzen, und immer wieder Porträts, die man so oder ähnlich auch
längst schon von Andy Warhol gesehen hatte. Nach der Haftstrafe experimentiert
Muehl wieder mit Eiern, Urin und Kot, zitiert Politiker - und malt daneben
Haie.
Bilder,
die nicht beißen
Doch wirklich beißend, der wirkliche Mittelpunkt von
Muehls Schaffen, sind die Ergebnisse kaum, und das war wohl auch den
Verantwortlichen der Schau bewusst: "Wir sehen nicht Bilder, sondern die
bildschaffende Bewegung selbst, wie sie zwischen dem Vorgefundenen und dem
Erreichten vermittelt", schreibt Peter Noever etwas kryptisch im Katalogvorwort.
Dabei ist es weniger die "bildschaffende Bewegung" Otto Muehls, die
interessiert, als der künstlerische Weg vom Aktionismus zur Kommune und wie man
dort Leben als Kunst beging - und natürlich, warum die Widerstände im Falle
Muehl bis herauf in die Gegenwart derart hartnäckig sind.
Der juristische
Streit, der ausgefochten und entschieden wurde (Muehl wurde wegen sexuellen
Missbrauchs Minderjähriger belangt, und im Umfeld der Schau wurden jetzt von
ehemaligen Kommunarden neue, noch unbekannte Vorwürfe laut), mag die eine Seite
der Medaille sein. Sie hat im Museum fürwahr nichts zu suchen. Deswegen aber die
Zeit am Friedrichshof, immerhin knappe 20 Jahre, auf die sich auch die meisten
Anschuldigungen beziehen, beinahe vollends auszuklammern, beziehungsweise, sie
auf das Eingangs zitierte Bild und einige Plakate über die in der Gemeinschaft
praktizierte Aktionsanalyse zu reduzieren, scheint der falsche Weg. Die Kunst
Otto Muehls war und ist eine Kunst, die sich ins Leben stürzt. Also wird man
sich auch bei ihrer unumgänglichen Aufarbeitung vor dem Leben nicht so einfach
drücken können. Widerstände hin oder her.
Wiener Museum für Angewandte
Kunst, bis 31. Mai, der Katalog kostet 44 Euro.