Ernst Caramelle reagiert mit diesen Diagonalen auf einen Mauervorsprung: "Diesmal ganz abstrakt" bei Nächst St. Stephan.
Wien - Seine Lichtarbeiten sollte man am besten gar nicht aufhängen, sagt Ernst Caramelle (geb. 1952) den Sammlern dieser raren, jahrelange Geduld erfordernden Blätter. Denn dafür sind die farbigen Papiere, die durch Abdecken und Dem-Sonnenlicht-Aussetzen zu abstrakt-geometrischen Kompositionen finden, viel zu (licht)empfindlich. Warum diese also nicht in einer Lade aufheben? So wie die Japaner es mit wertvollen Schriften tun. Für das Herausnehmen hat man dort sogar ein eigenes Schriftzeichen, das übersetzt "das Bild lüften" heißt. "Dem Bild Luft zu geben", dieser Gedanke gefällt Caramelle gut.
Mit der Vergänglichkeit hat der Künstler, der nur noch selten in Wien zu Gast ist und abwechselnd in New York, Frankfurt und Karlsruhe lebt, allerdings kein Problem. Seine Wandmalereien sind in der Regel flüchtig. Nur selten, so wie im Fall der Städtischen Galerie Nordhorn 1998, verweilen sie: Noch bevor er dort mit seiner malerischen Reaktion begann, ordnete er einen Rückbau an. Und auf einmal kam der hinter Verbauungen verborgene wunderschöne 50er-Jahre-Bau zum Vorschein.
Bei der heurigen Art Unlimited in Basel war es ein wenig anders: Da hat Caramelle auch das Raumgefüge selbst gebaut. Er ließ den Betrachter, ähnlich wie in Platons Höhlengleichnis, auf eine Wand farbiger Flächen blicken, die nur zum Teil "echt" waren. Einige der Flächen waren lediglich Reflexionen, die sich mittels Spiegel in die Komposition addierten.
Ein Prinzip der Täuschung, das er nun auch in der Galerie Nächst St. Stephan vorführt: Vom richtigen Standpunkt aus ergänzen sich Flächen über Raumgrenzen hinweg zu einer; deuten Diagonalen Raumkanten oder einfach nur gefaltete Flächen an. Es geht Caramelle weder um Imitation noch um dauerhafte Illusion, sondern um den kurzen, unentschiedenen Moment, in dem etwas sowohl Objekt als auch Fläche sein kann.
Und auf dieses Umspringen spielt auch der ironische Titel seiner Ausstellung an: Diesmal ganz abstrakt. Für solche generellen Fragen der Realität und des Sichtbaren die perfekte, zum Medium passende Form zu finden, das ist es, was Caramelle beschäftigt. (Anne Katrin Feßler/ DER STANDARD, Printausgabe, 15.9.2011)
Bis 29. 10., Galerie Nächst St. Stephan, Grünangergasse 1, 1010 Wien
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