05.10.2001 10:47:00 MEZ
Gerhard Rühm widmet Eröffnungsrede "Provokation und Stille"
Präsident Jungwirth sieht seinen "herbst" weiterhin gegen den Strom schwimmen

Graz - Seiner Eröffnungsrede für den "steirischen herbst" am Donnerstag Abend stellte Gerhard Rühm Überlegungen zum Terrorismus voraus. Er stellte sich zwar die Frage, ob er "all den Beschwörungen der Vernunft" noch seine eigenen hinzufügen solle, tat es dann aber doch. Ausführlicher widmete er sich dem Thema "Provokation und Stille": Provokation sei heute kaum noch möglich, man müsse sich vielmehr gegen eine Reizüberflutung durch die Unterhaltungsindustrie wehren.

Es sei klar, dass die Terroristen der Anschläge vom 11. September bestraft werden müssten: "Das alles ist klar, und wir wissen es längst, wie alle wissen, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeugt und sich so die Spirale der Gewalt immer höher dreht, darum eine Seite zuerst die Gewalt beenden muss, soll die vorhersehbare finale Katastrophe verhindert werden", so Rühm. Allerdings habe man nicht nur über die Taliban Grund, sich zu wundern: "Prediger in Amerika versteigen sich eben zu der ungeheuerlichen Behauptung, die Terroranschläge in New York und Washington seien eine Gottesstrafe".

"aus dem Wahrnehmungsgrau"

Anschließend ging Rühm auf sein eigentliches Thema, "Provokation und Stille", ein. Provokationen könnten seiner Meinung nach durchaus eine konstruktive Funktion haben. Sie würden "aus dem Wahrnehmungsgrau des Alltags" aufschrecken und durch Demonstration neuer Betrachtungs- und Handlungsweisen irritieren. Dadurch würden Denkprozesse ausgelöst, die auf längere Sicht gesellschaftliche Veränderungen bewirken könnten, erklärte der Künstler.

"Gelungene ästhetische Provokation setzt den Kulturbanausen, den Spießer voraus, der sich eben provozieren lässt. Durch seine habituelle Intoleranz provoziert er geradezu zur Provokation", meinte Rühm. Von daher seien sicher manche gezielten Provokationen der "wiener gruppe" in den 50er und 60er Jahren, "einer kulturpolitisch düsteren Periode", zu verstehen.

Provokation ohne Katharsis

Angesichts des gegenwärtigen globalen Ausverkaufs ästhetischer Maßstäbe und der zunehmenden Neutralisierung zwischenmenschlicher Beziehungen verliere "intelligente Provokation" zunehmend ihre kathartische Funktion. "So ist auch der kompromisslose Künstler gezielter Provokationen müde geworden - sie würden im lauten Getriebe wirkungslos verpuffen", so Rühm.

Die Entwicklung zu mehr Toleranz zumindest in unseren Breiten sei zwar erfreulich, berge aber die Gefahr der gesellschaftlichen Indifferenz, der kulturellen Maßstabs- und Kritiklosigkeit in sich. "In der Epoche des Pluralismus, wo alles verfügbar und fast alles erlaubt zu sein scheint, vermögen Künstler selbst mit extremsten Produktionen und Veranstaltungen kaum noch zu schockieren. Die gegenwärtige Spaßgesellschaft bewertet Kultur vor allem nach ihrem Unterhaltungswert, ihrer flotten Konsumierbarkeit". Heute müsse man sich weniger gegen dezidierte Gegner moderner Kunst wehren als vielmehr gegen die "aggressive Vereinnahmung" durch die Massenmedien.

Präsident Jungwirth: "Gegen den Strom der Anpassung"

Der "steirische herbst" schwimme nach wie vor "gegen den Strom der Anpassung", betonte "herbst"-Präsident Kurt Jungwirth bei der Eröffnung . Der "herbst" müsse "unverwechselbar sein und auf Qualität achten", so Jungwirth. Der Intendant des Festivals, Peter Oswald, umriss das Generalthema des Programms mit der Suche nach den "Spuren des Ich".

Bei rund 6.000 Festivals in Europa jährlich müsse der "steirische herbst" auf Unverwechselbarkeit und Qualität setzen. "Wir sind nicht auf eine Kunstsparte spezialisiert, wir sind multidisziplinär", betonte Kurt Jungwirth. Wichtig sei daher, dass "nicht wahllos produziert" werde. Für Qualität würden "seit jeher freie Programmmacher" sorgen. Es habe Überlegungen gegeben, einen Programmpunkt zum 11. September "herbeizuzaubern", so Jungwirth. Aber "ein Schnellschuss wäre nicht gut möglich und sinnvoll gewesen, genauso wenig wie ein militärischer".

Intendant Peter Oswald sagte, die Richtung des Festivals sei klar: "Ganz bewusst begibt sich der 'steirische herbst 2001' auf die Spuren des Ichs. Fragt nach der gegenwärtigen Situation dieses Ichs, das im vergangenen Jahrhundert einer so wechselvollen Geschichte ausgesetzt war." Nicht Verweigerung, "die ohnehin nur vorgetäuscht wäre", und nicht Feindschaft sei das Thema, so Oswald. "Es geht vielmehr darum, die ökonomischen Veränderungen und die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen mit gesellschaftlichem Fortschritt zu verbinden". (APA)


Quelle: © derStandard.at