Weibliche Archetypen und Frauenbilder von Aloïse Corbaz sowie Johann Hauser im Art brut Museum Gugging
Zurück in die Fülle roher Magie
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Mit "Le bateau poules" (Das Boot mit Hühnern) schuf Aloïse Cobaz
weibliche Archetypen der Art brut. Foto: Fondation Aloise/Kunstmuseum
Solothurn
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Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer
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Von psychiatrischer Beschäftigungstherapie zum Kunstmarkt-Objekt.
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Art brut gilt bis heute als brutale, wilde und auch reine Kunst-Form.
Wien.
Immer wenn der Hügel oberhalb des 2009 eröffneten Universitätscenters
in Maria Gugging erklommen ist, zeigt sich freie Natur von harmonischer
Seite, und es taucht zuweilen ein Lied der Beatles im Kopf auf: "The
Fool on the hill sees the sun going down…"
Vielleicht nicht von ungefähr.
In der Nachkriegszeit, in der die sehnsüchtige Identifizierung John
Lennons mit dem Narren am Hügel verwurzelt ist, hat der französische
Künstler Jean Dubuffet begonnen, Kunst von Patienten der Psychiatrie
als Art brut zu sammeln, nachdem sie für die Entstehung der modernen
Kunst als wesentlich entdeckt worden war. Brutal, roh, wild, rein,
absolut wollte diese Kunst sein, doch keines dieser Eigenschaftswörter
trifft die Verwandtschaft wirklich, daher wandelte sich der alte
Begriff "primitiv" im Laufe des 20. Jahrhunderts vom Schimpfwort auf
alles Unzivilisierte zur sachlichen, fast lobenden Beschreibung einer
von der eurozentristischen Kunstgeschichte, aber auch jeglichem Trend,
damit auch dem Kunstmarkt nahezu unbeeinflussten genialen Tätigkeit.
Am Hügel steht nicht nur das Haus der Künstler seit 1981 mit einem
Anbau von 2009, sondern 2006 eröffnete im großen Pavillon der früheren
Nervenheilanstalt das Museum Gugging, nachdem einige Jahre eine Galerie
die weltweit bekannter werdenden Werke vor Ort angeboten hatte. Was der
Psychiater Leo Navratil als Beschäftigungstherapie für seine männlichen
Patienten begonnen hat, ist durch Johann Feilacher in andere
Dimensionen gelenkt worden. Der selbst künstlerisch tätige Psychiater
hat den 22 Künstlern Navratils Beschreibung "zustandsgebunden" für ihre
Werke weggenommen und aus der Stätte ein internationales
Kompetenzzentrum der Art brut gemacht.
Der spielende Mensch
Die Künstler sollen von den hohen Preisen am internationalen
Kunstmarkt profitieren, dazu hat er bekannte Sammler wie Helmut Zambo
und den Novomatic-Glücksspielkonzern als Sponsoren für sein Museum
gewonnen. Für Feilacher ist die Gedankenbrücke zum "Homo ludens"
passend für die vielen Künste, die es schaffen, unser Denken in andere,
fremde Weiten auszudehnen. Eine Methode im Sinne von Joseph Beuys’
Vorstellung, dass bereits Denken Plastik und damit Kunst sein kann, von
wem und wo auch immer. Selbst die Spurensuche der Moderne bis in die
Urgeschichte der Menschheit und nach archetypischen Zeichen des
Kollektivs sind polyphon integrierbare Vergleiche.
Für den Neubeginn nach 1900 stehen als prominenteste Beispiele Pablo
Picasso und sein Kubismus, einst als "Negerkunst" verschrien, und auf
der theoretischen Seite der Kunsthistoriker Carl Einstein mit seiner
positiven Sicht auf afrikanische Vorbilder sowie der Arzt Hans
Prinzhorn mit seinem Buch "Bildnerei der Geisteskranken" 1922. In den
neuen künstlerischen Weiten von Postkolonialismus und Neoprimitivismus
heute ist das historisch Unbelastete, Unakademische, Ursprüngliche und
Spontane immer noch Vorbild. Auch das Blindmachen von Vorbildern bei
Arnulf Rainer oder der Gruppe der "Wirklichkeiten" – mit Peter Pongratz
und Franz Ringel – sind gesuchte und gefundene Parallelen zur
Kreativität der Gugginger.
Manche stehen diesem erweiterten Kunstbegriff kritisch gegenüber und
bezeichnen es als ein weiteres Reich westlicher Kunstprojektion – weg
von der Armut der Denkdominanz zurück in die Fülle der Magie, neben der
Hilfestellung durch halluzinogene Drogen und andere Visionen fördernde
Experimente.
Die Isolation des Art-brut-Phänomens und die Minimierung der zu
solchen Bildern führenden Krankheiten durch neue Medikamente sind
weitere Zweifel der Richtigkeit dieser Museumsgründung. Die
verzweifelte Selbstsuche in der alten "Nachtseite des Menschen", nach
der Rehabilitierung des Dunklen in den Kellerschichten unseres Inneren,
könnte die Vorurteile auch perpetuieren. Die angestrebte Verabschiedung
des Logischen ist dann wieder nur ein Einverleiben neuer Grenzgebiete
im Sinne westlicher, männlicher Abenteuerlust, neben einer
Resakralisierung der "Mythopoesie" des Künstlerischen als göttliche
Gabe.
Die positive Seite wäre die Akzeptanz der Fragilität unserer
Ordnungen, die Verabschiedung von der Ich-Dominanz des Genialen und
eindeutiger Geschlechtlichkeit in unpersönliche, demokratische Gefilde
ohne Nationalismen und die Freiheit der Kunst vom Analytischen der
Sprache. So gesehen integriert der Weg auf den Hügel auch das
emotionale Erlebnis einer Forschungsreise ohne sicheren Ausgang. In
Gugging flackert immer wieder die Frage auf, warum ausschließlich
männliche Vertreter der Art brut da leben, obwohl die Patientinnen der
frühen Psychoanalyse fast alle weiblich waren.
Mit der Ausstellung über Aloïse Corbaz (1886–1964) wird diese Frage
durchkreuzt – die Schweizerin ist ein interessanter Fall von krankhaft
empfundener Liebesfixierung auf eine hochgestellte Persönlichkeit,
Kaiser Wilhelm II. Im Künstlermilieu wäre sie
mit der begabten Camille Claudel zu vergleichen, die von ihrem
Bruder Paul, in Absprache mit ihrem Liebhaber Auguste Rodin, in eine
Nervenklinik eingeliefert wurde.
Sexualisierte Dämonin
Corbaz schuf andere weibliche Archetypen als der "Gugginger" Johann
Hauser (1926–1986): Seiner sexualisierten Dämonin stehen ihre
romantischen Paare und Mütter gegenüber. Die Identifizierung mit
Prinzessinnen von Kleopatra über Marie Antoinette, Napoleons Josephine
bis zu Sisi in ihren Werken war ein Zeichen, die Auffälligkeiten als
Gouvernante am Hof anders zu sehen. Nach dem Verlust ihrer Mutter als
Kind verliebte sie sich, beherrscht von einer Schwester, unglücklich in
einen Priester; dies sind die schlechten Voraussetzungen ihres
vierzigjährigen Aufenthalts ab 1918 in der Klinik Gimel-sur-Morges.
Seit 1920 zeichnete sie mit bunten Stiften auf Einpackpapiere,
collagierte aus Zeitungen, stellte religiös motivierte Rollbilder her,
die alle dominant Liebespaare im Mittelpunkt haben. Neben uniformierten
Männern sind die roten Kleider, tiefen Ausschnitte und Brüste der
Protagonistinnen wie Rosenknospen, nebst rosigen Kindern, Spiegelbild
ihrer zutiefst verletzten Psyche. Die üppigen Frauen haben blaue
Augenmasken, weil sich Corbaz vor ihrer eigenen erotischen Courage
genierte. Traumhaft wie ihre Gedichte und wie ihr Kollege Adolf Wölfli
beschriftete sie auch die Bilder. Die eigene Formensprache in der
Fläche, die gefüllt wird mit Formen und Farben, einer eigenen
"vorstelligen" Perspektive folgend, ohne Oben und Unten bei den
Kompositionen zu berücksichtigen.
Strichwolken voller Blitze
Der eigenen Formensprache gehorchte auch Johann Hauser, daher sind
viele der in Gugging ausgestellten Frauenbilder seiner Hand
"vorstellig" – ein Begriff, der für die vom Blick des Betrachters vor
dem Kunstwerk ausgehende Perspektive der altägyptischen Kunst geprägt
wurde. Seine insektenhaften Wesen oder Mischwesen mit Paradiesvögeln
erinnern an die schamanistischen Prinzipien folgenden frühen Göttinnen
mit Fettsteiß und alten Herrinnen der Tiere und des Ackerbaus, die über
Tod und Leben wachten. Die wie Haare auflodernden Strichwolken in Rot,
voller gelber Blitze und tiefschwarzer verdichtender Einschreibungen,
haben die enorme Ausstrahlung innerer Energie, auf die jene von
kraftlosen Formen des modernen Rationalismus geprägten Künstler der
Nachkriegszeit reagierten. Die gemalte innere Geografie erweiterte die
äußeren Welten ins Nicht-Sagbare, pur Fantastische so wie der Dichter
unter den Guggingern, Ernst Herbeck, durch seine Sprachneubildungen die
Wiener Gruppe und Peter Handke inspirierte.
Die Heilstätte für psychisch Kranke ist ab 1960 eine für die Kunst
selbst geworden. Im besten Fall bleiben sie für eine offene globale
Gesellschaft inspirierend, die sich nicht mehr durch
Unterdrückungsmechanismen und Hierarchien bestimmen lässt.
Printausgabe vom Freitag, 16. April 2010
Online seit: Donnerstag, 15. April 2010 19:22:00
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