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HANDELSBLATT, Montag, 06. Juni 2005, 06:00 Uhr

Interview mit Biennale-Teilnehmer

Sehgal: „Ich suche eine andere Form der Produktion“

Das Gespräch führten Christiane Fricke, Susanne Schreiber, Petra Schwarz und Bernd Ziesemer.

Tino Sehgal vertritt Deutschland bei der Biennale in Venedig. Der studierte Volkswirt und Tänzer spricht im Handelsblatt-Interview über die Ökonomie des Immateriellen.

Sie haben Volkswirtschaftslehre und Tanz studiert, was zuerst?

Ich habe beides in der gleichen Woche angefangen und zwar aus der gleichen Motivation heraus. Mich hat die Frage bewegt, ob es noch andere Formen des Produzierens gibt, als natürliche Ressourcen in Gebrauchsgegenstände umzuwandeln. Die Volkswirtschaftslehre erschien mir als der Ort, an dem ich ein Handwerkszeug zur Bearbeitung einer solchen Fragestellung erwerben könnte. Tanz hingegen als eine Art Lösung oder Antwort auf diese Frage, da er ja einem anderen Produktionsmodus folgt: er baut sich gleichzeitig auf und wieder ab, trotzdem ist er da und produziert Effekte.

Wie passt das zusammen? Ökonomie gilt als eines der materiellsten Fächer, die man sich vorstellen kann Tanz ist immateriell.

Ich habe sicherlich auch einen Gefallen an der Konzeptualität der Kombination gehabt. Aber das ist schon der Kern meiner Arbeit: diese zwei Ebenen zusammenzubringen.

Warum wünschten Sie sich ein Interview mit Ökonomen?

In der heutigen Zeit löst eine Teilnahme am Deutschen Pavillon bei der Biennale von Venedig eine große Medienaufmerksamkeit aus. Die Frage ist, was macht man damit? Mir schien es interessant, meine Arbeit mit dem Bereich, aus dem sie hervorgegangen ist, zusammenzubringen.

Steckt ein antikapitalistischer Impuls hinter Ihrer Arbeit?

Nein. Wir leben in einem bestimmten Distributionssystem, das man den „Markt“ nennen kann. Ihm unterliegt ein Produktionsmodus, der den zivilisatorischen Prozess angetrieben hat, nämlich das Transformieren von natürlichen Ressourcen. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Was heißt das für Ihre Arbeit?

Ich suche eine andere Form der Produktion, einen anderen Produktionsmodus. Nicht, ob es ein anderes Distributionssystem gibt. Ob auch ein anderer Produktionsmodus innerhalb unseres vorhandenen Distributionssystems realisierbar ist. Meine Arbeiten versuchen einen solchen anderen Produktionsmodus in den Markt einzuführen und gesellschaftlich aufzuwerten.

Ist das, was Sie tun, eine Kritik des Ökonomischen?

Die Kritik des Ökonomischen richtet sich ja heute meist gegen die zunehmende Ökonomisierung des Lebens. Die ist meines Erachtens nicht aufhaltbar. In dem Maße in dem Grundbedürfnisse mit immer weniger Arbeitsaufwand befriedigt werden können, werden weitere Bereiche des Lebens von Angeboten anvisiert, da ja auch die im Zuge der Effektivitätssteigerung freigesetzten Arbeitskräfte weiterhin ein Einkommen benötigen. Meine Frage ist wie dieser Prozess gestaltet werden kann, anstatt von vorneherein zu sagen, das ist was Schlimmes.

Aber entziehen Sie sich nicht mit immaterieller Kunst dem Kunstmarkt?

Nein. Wie jeder Markt ist der Kunstmarkt grundsätzlich offen: es wird das angeboten, was kulturell wertgeschätzt wird, also eine Nachfrage hat. Ich ändere lediglich die Verfasstheit dessen, was da getauscht wird. Das missverstehen manche Leute als Kritik an der Distributionsform, da dies leider die einzige Form der Kritik an Ökonomie zu sein scheint, die ein heutiger Diskurs vorsieht.


Sie sagen, dass an die Stelle der Transformation von natürlichem Material die Transformation von Handlungen treten muss. Glauben Sie, dass das volkswirtschaftlich funktionieren kann?

Wir haben ja heute unsere Grundversorgung. Wir können ja nicht viermal am Tag warm essen. Meines Erachtens sind wir heute in einer Phase des Übergangs. Wir verkaufen Dinge, aber wir verkaufen nicht mehr unbedingt deren Gebrauchswert, sondern eine Gestaltung von Identität. Dafür gibt es einen Bedarf. Wir müssen und wollen vermehrt unsere Subjektivität differenzieren. Danach haben wir eine Nachfrage, und das ist es also was z.B. das neuste Mobiltelefon einem Jugendlichen bietet.

Entscheidend sind also heute nicht die Schuhe, sondern Ihre Marke?

Eine Marke will ja eine bestimmte Weltanschauung sein, eine bestimmte Subjektivität. Zu der Frage, ob mein Prinzip volkswirtschaftlich funktionieren könnte: Das weiß ich nicht, aber andererseits ist die Frage, ob unser jetziges Modell nachhaltig ist. Da wäre ich skeptisch.

Was heißt das übertragen auf Ihre Objekte?

Was ich versuche, ist, nicht nur etwas zu sagen, sondern etwas auch umzusetzen. Deswegen interessiert mich auch Kunst letzlich mehr als ökonomische Theorien. Ich produziere Werke, die Subjektivität nicht mehr an einen materiellen Gegenstand ranheften.

Funktioniert Ihr Werk auch außerhalb des Museums?

Nein. Mein Interesse an der Kunst liegt im Museum begründet. Das ist eine Institution, die langfristige Problemstellungen und Wertverschiebungen anzeigt. Wo gibt es das noch? Der Markt operiert nach einer Logik des Trends, Politik im Vierjahresrhythmus.

Sie versuchen Materielles auszuschalten. Es gibt z.B. keine Filme von Ihren Aktionen. Warum?

Weil man sonst das Modell nicht klar sehen könnte. Natürlich weiß ich, dass solche Filme auch zirkulieren würden, und dass letztlich, selbst wenn es als Dokument autorisiert wurde, irgendwann ununterscheidbar wird von einem Werk. Und das andere ist, dass ich nicht darauf angewiesen bin. Ich habe ja das Museum. Das ist ja ein Archiv.

Ihre Arbeit muss doch irgendwie dokumentiert werden. Was passiert, wenn der Text vergessen wird?

Nun, das ist ja meist nur eine Zeile. Davon abgesehen ist mir daran gelegen, daran zu erinnern, dass unsere orale Gedächtniskultur auch in unserer heutigen Gesellschaft immer noch das stärkste Moment der Übertragung von Wissen ist.

Sind Sie bemüht, eine kleine Ökonomie des Immateriellen zu erschaffen? Sie schaffen immaterielle Kunst und gestatten nur mündliche Kaufverträge.

Ja so könnte man das sagen. Aber das ist natürlich auch eine Frage der Inszenierung. Wenn man in die Öffentlichkeit tritt mit so einem Projekt, dann muss man das präzise formulieren. Es geht um eine ganz konkrete Arbeit und die ist so ausgestaltet.

Ist der Kunstmarkt aus Ihrer Sicht ein vollkommener Markt? Es gibt keine Mindeststandards, keine Tarifverträge...

Eine Kunstmesse ist schon sehr nahe an dem neoklassischen Modell des vollkommenen Marktes. Persönlich interessiert mich der Kunstmarkt allerdings nur, weil er zum einen ein normaler, nicht-subventionierter Markt ist, andererseits, es aber möglich ist solche Experimente wie meines durchzuführen.


Interessiert Sie die Kapitalismusdebatte?

Das ist ja eine im Kern an kurzfristigen Problemen orientierte Debatte, bei der es um die durchaus relevante Frage nach der Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens geht. Wesentlicher ist meiner Einschätzung nach, dass es zivilisationsgeschichtlich präzedenzlos ist, dass es ganze Gesellschaften gibt, die einen Überschuss an Grundversorgung haben. Was heißt eigentlich Ökonomie zu machen, unter solchen Vorzeichen? Heute wird immer noch mit den Prämissen einer vergangen Ära operiert, nämlich mehr Wachstum gleich mehr Beschäftigung gleich mehr Wohlfahrt.

Einspruch. Heute gehört auch ein Fernseher zur Grundversorgung. Sie ist also historisch bedingt und nicht fix...

[Er lacht.] Das ist eine konstruktivistische Position, die unser Luxus hervorgebracht hat. Wenn Sie keine ausreichende Grundversorgung haben, dann wissen Sie das. Da haben die Konstruktivismen ihr Ende, wenn’s an die Biologie des eigenen Körpers geht.

Sie meinen Grundversorgung wirklich im ursprünglichsten Sinne: Essen Trinken, Obdach...

Ja. Ich denke, dass das die absoluten Parameter verändert, unter denen wir Kultur oder Ökonomie betrachten müssen, nehmen wir z.B. die Beschäftigung. In dem Moment, in dem der Zivilisationsprozess sein Ziel erreicht hat, nämlich die Grundversorgung sichern zu können, ist die Frage, warum überhaupt noch weiter wachsen oder neuartige Dinge herstellen. Der Hauptgrund, warum Leute heute meines Erachtens beschäftigt sind, liegt nicht mehr darin, dass das, was sie produzieren gesamtgesellschaftlich von großem Nutzen ist. Der Nutzen liegt vielmehr darin, dass eine Menge Leute beschäftigt sind. Dass sie ein Einkommen haben, was sie natürlich wieder konsumieren können, und dass sie über diese Beschäftigung einen Status beziehen. Was wir früher als Produktion bezeichnet hätten , hat heute in vielen Fällen Züge von Konsumption. Man konsumiert seinen Arbeitsplatz. Die direkte Wohlfahrtssteigerung, die das Produzierte selbst hervorzubringen vermag, ist minimal.

Aber der Markt entwickelt sich durch immer neue Erfindungen fort...

Meine Frage ist, was ist da sozusagen an Wohlfahrtspotenzial drin in diesen immer neuen technischen Erfindungen? Ich habe den Eindruck, dass in diesen Erfindungen wenig Wachstumspotenzial für die Wohlfahrt steckt. Wir folgen einem alten Paradigma und denken, dass es ja früher durch technische Erfindungen große Wohlfahrtssteigerungen gegeben hat. Heute kommt bei den Erfindungen weniger rum, wohlfahrtsmäßig gibt es da einen abnehmenden Grenznutzen. Nur das darüber erzielte Einkommen und der damit verbundene gesellschaftliche Status sind wohlfahrtsmäßig relevant.


Welchen Nutzen stiftet Ihre Kunst?

Das Interessante an der Kunst im allgemeinen ist: sie ist ein Modell, dafür wie Produkte in der Zukunft aussehen werden, wenn sie keinen unmittelbaren Gebrauchswert mehr behaupten. Die Produkte, die heute eigentlich so etwas wie Subjektivität verkaufen, meinen aber rhetorisch immer noch einen Gebrauchswert behaupten zu müssen. Seitdem Kunst im Museum hängt und autonom ist, behauptet sie dies schon nicht mehr. Ich glaube, dass in Zukunft auch immer mehr andere Produkte keinen primären Gebrauchswert mehr behaupten wollen.

Arbeiten Sie mit gezielten Provokationen?

Das Wort der Provokation find ich jetzt nicht so attraktiv. Mich interessiert der Moment, in dem ein Besucher merkt: ich bin gefragt, ich bin verantwortlich, ich spiele eine Rolle. In unserer heutigen Gesellschaft haben wir über die Demokratie, aber vor allem über den Markt unheimlich viele Gestaltungs- und Machtmöglichkeiten. Man muss nur überlegen, wie man sie nutzt. Das reflektieren meine Arbeiten in vielen Arbeiten spüren die Besucher, dass sie auch eine Macht über diese Sache haben.

Sie verkaufen Ihre Arbeiten auch an Privatleute, wie sehen diese Arbeiten aus?

Die allereinfachste findet während eines Abendessens statt. Das Sammlerehepaar hat eingeladen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt – es ist noch genug auf den Tellern – steht die Frau auf und geht weg, und 45 Sekunden später steht der Mann auf und geht auch weg. Beide bleiben vier bis fünf Minuten weg. Dann kommen sie wieder und setzen sich an den Platz des jeweils anderen und essen und unterhalten sich weiter. Entweder passiert gar nichts und das war’s dann. Oder die Gäste fragen: „Wo wart Ihr?“ Dann sagen die beiden. „Das ist eine Arbeit von Tino Sehgal, die heißt ’Those thoughts’.“ Die Arbeit besteht also in jenen Gedanken bzw. gesteigerten Vorurteilen, die die Besucher hatten, als die Gastgeber draußen war.

Sind Sie optimistisch, dass aus dem, was Sie tun, vielleicht ein Wachstumssektor entstehen könnte?

Das weiß ich wirklich nicht. Aber in Ihrer Frage schwingt schon ein „Na dann hätten wir Arbeitsplätze, dann hätten wir Beschäftigung“ mit. Dieses ganze Modell – ich muss beschäftigt sein – oder nur dadurch kann ich einen gesellschaftlichen Status erlangen, das sind Fragen, mit denen sich die Kultur stärker beschäftigen muss. Ich bin ja für den Markt. Aber der Markt ist auch nur ein Werkzeug. Es gibt auch Dinge, die wir außerhalb des Marktes regeln können. Das ist ja auch eine unheimlich Gewalt, die in unserer Gesellschaft heute stattfindet, ich kann ja fast nur einen Status erlangen über ein Beschäftigungsverhältnis. Wir sollten uns fragen: Gibt es noch andere Wege? Oder können wir das zumindest teilweise auslagern? Für mich ist das erst mal ein konzeptuelles Problem. Das versuche ich zumindest mit meinen Arbeiten zu eruieren, in dieser Modellhaftigkeit.

Wir denken ja immer in abhängigen Beschäftigten.

Meine Fragen sind: Was produzieren wir jeweils? Was hat das für Wohlfahrtseffekte? Warum produzieren wir?

Was hat das Werk „This is propaganda“ mit Propaganda zu tun?

Das hat mit all dem zu tun, was wir besprochen haben. Da ist also eine Aufsicht, die This is propaganda, you know you know singt. Das ‚this‘ kann sich sowohl auf das Singen beziehen, als auch auf die anderen Werke in der Umgebung. Beide propagieren unterschiedliche Produktionsformen, eben die Transformation von Handlungen beim Singen oder bei den anderen Arbeiten die Transformation von Materie. Letzteres ist meines Erachtens eben ein Modell, was fortschreitend langweilig und problematisch wird.

Eine Frage noch: Warum haben Sie Probleme mit dem Begriff Provokation?

Das hört sich ein bisschen vulgär an. Es gibt nichts Leichteres als eine bloße Provokation.


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