Interview mit
Biennale-Teilnehmer ![](00064739-Dateien/s.gif)
Sehgal: „Ich suche eine andere
Form der Produktion“ ![](00064739-Dateien/s.gif)
Das Gespräch führten Christiane
Fricke, Susanne Schreiber, Petra Schwarz und Bernd Ziesemer.
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Tino Sehgal vertritt
Deutschland bei der Biennale in Venedig. Der studierte Volkswirt und
Tänzer spricht im Handelsblatt-Interview über die Ökonomie des
Immateriellen. ![](00064739-Dateien/s.gif)
Sie haben Volkswirtschaftslehre und Tanz studiert, was
zuerst?
Ich habe beides in der gleichen Woche angefangen und zwar aus der
gleichen Motivation heraus. Mich hat die Frage bewegt, ob es noch
andere Formen des Produzierens gibt, als natürliche Ressourcen in
Gebrauchsgegenstände umzuwandeln. Die Volkswirtschaftslehre erschien
mir als der Ort, an dem ich ein Handwerkszeug zur Bearbeitung einer
solchen Fragestellung erwerben könnte. Tanz hingegen als eine Art
Lösung oder Antwort auf diese Frage, da er ja einem anderen
Produktionsmodus folgt: er baut sich gleichzeitig auf und wieder ab,
trotzdem ist er da und produziert Effekte.
Wie passt das zusammen? Ökonomie gilt als eines der
materiellsten Fächer, die man sich vorstellen kann Tanz ist
immateriell.
Ich habe sicherlich auch einen Gefallen an der Konzeptualität der
Kombination gehabt. Aber das ist schon der Kern meiner Arbeit: diese
zwei Ebenen zusammenzubringen.
Warum wünschten Sie sich ein Interview mit Ökonomen?
In der heutigen Zeit löst eine Teilnahme am Deutschen Pavillon
bei der Biennale von Venedig eine große Medienaufmerksamkeit aus.
Die Frage ist, was macht man damit? Mir schien es interessant, meine
Arbeit mit dem Bereich, aus dem sie hervorgegangen ist,
zusammenzubringen.
Steckt ein antikapitalistischer Impuls hinter Ihrer
Arbeit?
Nein. Wir leben in einem bestimmten Distributionssystem, das man
den „Markt“ nennen kann. Ihm unterliegt ein Produktionsmodus, der
den zivilisatorischen Prozess angetrieben hat, nämlich das
Transformieren von natürlichen Ressourcen. Das sind zwei
verschiedene Dinge.
Was heißt das für Ihre Arbeit?
Ich suche eine andere Form der Produktion, einen anderen
Produktionsmodus. Nicht, ob es ein anderes Distributionssystem gibt.
Ob auch ein anderer Produktionsmodus innerhalb unseres vorhandenen
Distributionssystems realisierbar ist. Meine Arbeiten versuchen
einen solchen anderen Produktionsmodus in den Markt einzuführen und
gesellschaftlich aufzuwerten.
Ist das, was Sie tun, eine Kritik des Ökonomischen?
Die Kritik des Ökonomischen richtet sich ja heute meist gegen die
zunehmende Ökonomisierung des Lebens. Die ist meines Erachtens nicht
aufhaltbar. In dem Maße in dem Grundbedürfnisse mit immer weniger
Arbeitsaufwand befriedigt werden können, werden weitere Bereiche des
Lebens von Angeboten anvisiert, da ja auch die im Zuge der
Effektivitätssteigerung freigesetzten Arbeitskräfte weiterhin ein
Einkommen benötigen. Meine Frage ist wie dieser Prozess gestaltet
werden kann, anstatt von vorneherein zu sagen, das ist was
Schlimmes.
Aber entziehen Sie sich nicht mit immaterieller Kunst dem
Kunstmarkt?
Nein. Wie jeder Markt ist der Kunstmarkt grundsätzlich offen: es
wird das angeboten, was kulturell wertgeschätzt wird, also eine
Nachfrage hat. Ich ändere lediglich die Verfasstheit dessen, was da
getauscht wird. Das missverstehen manche Leute als Kritik an der
Distributionsform, da dies leider die einzige Form der Kritik an
Ökonomie zu sein scheint, die ein heutiger Diskurs vorsieht. ![](00064739-Dateien/s.gif)
Sie sagen, dass an die Stelle der Transformation von
natürlichem Material die Transformation von Handlungen treten muss.
Glauben Sie, dass das volkswirtschaftlich funktionieren
kann?
Wir haben ja heute unsere Grundversorgung. Wir können ja nicht
viermal am Tag warm essen. Meines Erachtens sind wir heute in einer
Phase des Übergangs. Wir verkaufen Dinge, aber wir verkaufen nicht
mehr unbedingt deren Gebrauchswert, sondern eine Gestaltung von
Identität. Dafür gibt es einen Bedarf. Wir müssen und wollen
vermehrt unsere Subjektivität differenzieren. Danach haben wir eine
Nachfrage, und das ist es also was z.B. das neuste Mobiltelefon
einem Jugendlichen bietet.
Entscheidend sind also heute nicht die Schuhe, sondern Ihre
Marke?
Eine Marke will ja eine bestimmte Weltanschauung sein, eine
bestimmte Subjektivität. Zu der Frage, ob mein Prinzip
volkswirtschaftlich funktionieren könnte: Das weiß ich nicht, aber
andererseits ist die Frage, ob unser jetziges Modell nachhaltig ist.
Da wäre ich skeptisch.
Was heißt das übertragen auf Ihre Objekte?
Was ich versuche, ist, nicht nur etwas zu sagen, sondern etwas
auch umzusetzen. Deswegen interessiert mich auch Kunst letzlich mehr
als ökonomische Theorien. Ich produziere Werke, die Subjektivität
nicht mehr an einen materiellen Gegenstand ranheften.
Funktioniert Ihr Werk auch außerhalb des Museums?
Nein. Mein Interesse an der Kunst liegt im Museum begründet. Das
ist eine Institution, die langfristige Problemstellungen und
Wertverschiebungen anzeigt. Wo gibt es das noch? Der Markt operiert
nach einer Logik des Trends, Politik im Vierjahresrhythmus.
Sie versuchen Materielles auszuschalten. Es gibt z.B. keine
Filme von Ihren Aktionen. Warum?
Weil man sonst das Modell nicht klar sehen könnte. Natürlich weiß
ich, dass solche Filme auch zirkulieren würden, und dass letztlich,
selbst wenn es als Dokument autorisiert wurde, irgendwann
ununterscheidbar wird von einem Werk. Und das andere ist, dass ich
nicht darauf angewiesen bin. Ich habe ja das Museum. Das ist ja ein
Archiv.
Ihre Arbeit muss doch irgendwie dokumentiert werden. Was
passiert, wenn der Text vergessen wird?
Nun, das ist ja meist nur eine Zeile. Davon abgesehen ist mir
daran gelegen, daran zu erinnern, dass unsere orale Gedächtniskultur
auch in unserer heutigen Gesellschaft immer noch das stärkste Moment
der Übertragung von Wissen ist.
Sind Sie bemüht, eine kleine Ökonomie des Immateriellen zu
erschaffen? Sie schaffen immaterielle Kunst und gestatten nur
mündliche Kaufverträge.
Ja so könnte man das sagen. Aber das ist natürlich auch eine
Frage der Inszenierung. Wenn man in die Öffentlichkeit tritt mit so
einem Projekt, dann muss man das präzise formulieren. Es geht um
eine ganz konkrete Arbeit und die ist so ausgestaltet.
Ist der Kunstmarkt aus Ihrer Sicht ein vollkommener Markt? Es
gibt keine Mindeststandards, keine Tarifverträge...
Eine Kunstmesse ist schon sehr nahe an dem neoklassischen Modell
des vollkommenen Marktes. Persönlich interessiert mich der
Kunstmarkt allerdings nur, weil er zum einen ein normaler,
nicht-subventionierter Markt ist, andererseits, es aber möglich ist
solche Experimente wie meines durchzuführen. ![](00064739-Dateien/s.gif)
Interessiert Sie die Kapitalismusdebatte?
Das ist ja eine im Kern an kurzfristigen Problemen orientierte
Debatte, bei der es um die durchaus relevante Frage nach der
Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens geht. Wesentlicher ist
meiner Einschätzung nach, dass es zivilisationsgeschichtlich
präzedenzlos ist, dass es ganze Gesellschaften gibt, die einen
Überschuss an Grundversorgung haben. Was heißt eigentlich Ökonomie
zu machen, unter solchen Vorzeichen? Heute wird immer noch mit den
Prämissen einer vergangen Ära operiert, nämlich mehr Wachstum gleich
mehr Beschäftigung gleich mehr Wohlfahrt.
Einspruch. Heute gehört auch ein Fernseher zur
Grundversorgung. Sie ist also historisch bedingt und nicht
fix...
[Er lacht.] Das ist eine konstruktivistische Position, die unser
Luxus hervorgebracht hat. Wenn Sie keine ausreichende
Grundversorgung haben, dann wissen Sie das. Da haben die
Konstruktivismen ihr Ende, wenn’s an die Biologie des eigenen
Körpers geht.
Sie meinen Grundversorgung wirklich im ursprünglichsten Sinne:
Essen Trinken, Obdach...
Ja. Ich denke, dass das die absoluten Parameter verändert, unter
denen wir Kultur oder Ökonomie betrachten müssen, nehmen wir z.B.
die Beschäftigung. In dem Moment, in dem der Zivilisationsprozess
sein Ziel erreicht hat, nämlich die Grundversorgung sichern zu
können, ist die Frage, warum überhaupt noch weiter wachsen oder
neuartige Dinge herstellen. Der Hauptgrund, warum Leute heute meines
Erachtens beschäftigt sind, liegt nicht mehr darin, dass das, was
sie produzieren gesamtgesellschaftlich von großem Nutzen ist. Der
Nutzen liegt vielmehr darin, dass eine Menge Leute beschäftigt sind.
Dass sie ein Einkommen haben, was sie natürlich wieder konsumieren
können, und dass sie über diese Beschäftigung einen Status beziehen.
Was wir früher als Produktion bezeichnet hätten , hat heute in
vielen Fällen Züge von Konsumption. Man konsumiert seinen
Arbeitsplatz. Die direkte Wohlfahrtssteigerung, die das Produzierte
selbst hervorzubringen vermag, ist minimal.
Aber der Markt entwickelt sich durch immer neue Erfindungen
fort...
Meine Frage ist, was ist da sozusagen an Wohlfahrtspotenzial drin
in diesen immer neuen technischen Erfindungen? Ich habe den
Eindruck, dass in diesen Erfindungen wenig Wachstumspotenzial für
die Wohlfahrt steckt. Wir folgen einem alten Paradigma und denken,
dass es ja früher durch technische Erfindungen große
Wohlfahrtssteigerungen gegeben hat. Heute kommt bei den Erfindungen
weniger rum, wohlfahrtsmäßig gibt es da einen abnehmenden
Grenznutzen. Nur das darüber erzielte Einkommen und der damit
verbundene gesellschaftliche Status sind wohlfahrtsmäßig
relevant. ![](00064739-Dateien/s.gif)
Welchen Nutzen stiftet Ihre Kunst?
Das Interessante an der Kunst im allgemeinen ist: sie ist ein
Modell, dafür wie Produkte in der Zukunft aussehen werden, wenn sie
keinen unmittelbaren Gebrauchswert mehr behaupten. Die Produkte, die
heute eigentlich so etwas wie Subjektivität verkaufen, meinen aber
rhetorisch immer noch einen Gebrauchswert behaupten zu müssen.
Seitdem Kunst im Museum hängt und autonom ist, behauptet sie dies
schon nicht mehr. Ich glaube, dass in Zukunft auch immer mehr andere
Produkte keinen primären Gebrauchswert mehr behaupten wollen.
Arbeiten Sie mit gezielten Provokationen?
Das Wort der Provokation find ich jetzt nicht so attraktiv. Mich
interessiert der Moment, in dem ein Besucher merkt: ich bin gefragt,
ich bin verantwortlich, ich spiele eine Rolle. In unserer heutigen
Gesellschaft haben wir über die Demokratie, aber vor allem über den
Markt unheimlich viele Gestaltungs- und Machtmöglichkeiten. Man muss
nur überlegen, wie man sie nutzt. Das reflektieren meine Arbeiten in
vielen Arbeiten spüren die Besucher, dass sie auch eine Macht über
diese Sache haben.
Sie verkaufen Ihre Arbeiten auch an Privatleute, wie sehen
diese Arbeiten aus?
Die allereinfachste findet während eines Abendessens statt. Das
Sammlerehepaar hat eingeladen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt – es
ist noch genug auf den Tellern – steht die Frau auf und geht weg,
und 45 Sekunden später steht der Mann auf und geht auch weg. Beide
bleiben vier bis fünf Minuten weg. Dann kommen sie wieder und setzen
sich an den Platz des jeweils anderen und essen und unterhalten sich
weiter. Entweder passiert gar nichts und das war’s dann. Oder die
Gäste fragen: „Wo wart Ihr?“ Dann sagen die beiden. „Das ist eine
Arbeit von Tino Sehgal, die heißt ’Those thoughts’.“ Die Arbeit
besteht also in jenen Gedanken bzw. gesteigerten Vorurteilen, die
die Besucher hatten, als die Gastgeber draußen war.
Sind Sie optimistisch, dass aus dem, was Sie tun, vielleicht
ein Wachstumssektor entstehen könnte?
Das weiß ich wirklich nicht. Aber in Ihrer Frage schwingt schon
ein „Na dann hätten wir Arbeitsplätze, dann hätten wir
Beschäftigung“ mit. Dieses ganze Modell – ich muss beschäftigt sein
– oder nur dadurch kann ich einen gesellschaftlichen Status
erlangen, das sind Fragen, mit denen sich die Kultur stärker
beschäftigen muss. Ich bin ja für den Markt. Aber der Markt ist auch
nur ein Werkzeug. Es gibt auch Dinge, die wir außerhalb des Marktes
regeln können. Das ist ja auch eine unheimlich Gewalt, die in
unserer Gesellschaft heute stattfindet, ich kann ja fast nur einen
Status erlangen über ein Beschäftigungsverhältnis. Wir sollten uns
fragen: Gibt es noch andere Wege? Oder können wir das zumindest
teilweise auslagern? Für mich ist das erst mal ein konzeptuelles
Problem. Das versuche ich zumindest mit meinen Arbeiten zu eruieren,
in dieser Modellhaftigkeit.
Wir denken ja immer in abhängigen Beschäftigten.
Meine Fragen sind: Was produzieren wir jeweils? Was hat das für
Wohlfahrtseffekte? Warum produzieren wir?
Was hat das Werk „This is propaganda“ mit Propaganda zu
tun?
Das hat mit all dem zu tun, was wir besprochen haben. Da ist also
eine Aufsicht, die This is propaganda, you know you know singt. Das
‚this‘ kann sich sowohl auf das Singen beziehen, als auch auf die
anderen Werke in der Umgebung. Beide propagieren unterschiedliche
Produktionsformen, eben die Transformation von Handlungen beim
Singen oder bei den anderen Arbeiten die Transformation von Materie.
Letzteres ist meines Erachtens eben ein Modell, was fortschreitend
langweilig und problematisch wird.
Eine Frage noch: Warum haben Sie Probleme mit dem Begriff
Provokation?
Das hört sich ein bisschen vulgär an. Es gibt nichts Leichteres
als eine bloße Provokation. ![](00064739-Dateien/s.gif)
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