Artikel aus profil Nr. 22/2003
Eine Leica ist eine Leica ist eine Leica

Im August feiert Henri Cartier- Bresson seinen 95. Geburtstag. Mehrere Ausstellungen, eine davon in Wien, würdigen sein epochales Werk. profil-Fotochef Manfred Klimek über das Ende der alten und den Siegeszug der digitalen Fotografie.
Manchmal, meistens morgens, so berichten die wenigen verbliebenen Lebensbegleiter, öffnet Henri Cartier-Bresson die Fenster seiner Pariser Wohnung und fotografiert hinab. Hinab in das Leben seiner Straße. Aus erhöhter Perspektive fallen die Schatten länger, die Figuren der Menschen dort unten verkürzen sich zum Ausgangspunkt ihres lichtundurchlässigen Abbilds.

Solche Fotos hat Cartier-Bresson, der am 22. August dieses Jahres seinen 95. Geburtstag feiert, immer gerne gefertigt. Tausende Amateure haben es ihm nachgemacht. Eine endlose Serie von Belichtungen. Dennoch juckt es den Greis noch im Finger, das kleine Detail will er noch einmal festhalten. Sein Hauptwerk jedoch ist längst getan: Henri Cartier-Bresson hat der Fotografie einen Namen gegeben.

Ja, es gibt auch Fotos von Ansel Adams und Henri Lartique (die beide längst tot sind), es gibt die Modischen, die Obszönen und die Versponnenen. Belichtung meets Luxus: Das ist nicht zuletzt ein Geschäft, etwa für den Kölner Verleger Benedikt Taschen, der die Fotografie in die Bücherregale der Villenviertel zauberte. Ein Bildersturm, hin zur Massentauglichkeit und zugleich chemischer Schlussakt der Malerei – freilich nur, was die technische Entwicklung anlangt.

Henri Cartier-Bressons Bilder finden, unter die anderen gereiht, in dieser Galerie des Möglichen und Inszenierten keinen Platz. Er betrieb die Fotografie aus Empathie. Und weil sie ein gutes Leben versprach.

Mit ihm, als aktivem Arbeiter, ging auch die Reportage verloren, jene Gattung Bildjournalismus, die Magazine wie „Life“ oder „Stern“ zu dem machte, was sie sein konnten, solange die Bildvernichtungsmaschine deren Platz noch nicht endgültig eingenommen hatte.

Was Cartier-Bresson mit seiner Arbeit auslöste, war mehr, als sein Werk selbst vermitteln kann. Angesichts seines unbestritten epochalen Einflusses auf das Genre wirkt sein OEuvre seltsam blass. Beim ersten Hinsehen. Erst beim zweiten, vierten, zehnten Blick erkennt man die Finesse seines Sehens, die Zugewandtheit zum Augenblick. Man ahnt die Vorgeschichte des Fotos, sein Entstehen, sieht den Fotografen die Handlung verfolgen, den Zufall einplanen. Und man hört sein „Klick“, das Auslösen der Kamera.

Cartier-Bressons Geheimnis ist, dass er sich von technischem Schnickschnack nie beeindrucken ließ, dass ihn die technische Progression weder beeinflussen noch beirren konnte. Seine Kamera war eine Leica, seine Kamera ist eine Leica. Selbst wenn die kleine Kameraschmiede aus Solms nun den Tabubruch vollzogen hat und mithilfe eines japanischen Elektronikkonzerns eine Digitalkamera baut.

Und obwohl anzunehmen ist, dass Cartier-Bresson auch andere Objektive besitzt als das standardmäßig mitgelieferte Normalobjektiv, hat er die meisten Aufnahmen mit dieser banalen Brennweite fotografiert. Er lehrte alle Fotografen, dass es auf das Entern des Moments ankommt, auf nichts anderes.

Das macht ihn zu einem Ausnahmehandwerker, der sich immer konsequent jeder Vermarktung widersetzt hat. Cartier-Bresson war und ist ein Unantastbarer, auch deshalb, weil seine Fotografie als Kunstform lange verkannt wurde.

Nun steht sie im Rampenlicht, ist Geld wert. Cartier-Bressons Fotos erreichen den Kunstmarkt, von Galeristen glühend gepriesen. Nicht wenige verdächtigen den unbestechlichen Reporter Cartier-Bresson nun, die Menschen positioniert, die Realitäten im Sinne des Bildes geformt zu haben. Das mag ein Teil der Wahrheit sein, aber selbst wenn da und dort nachgeholfen wurde: Der Moment lässt sich nur drängen, niemals domestizieren.

Doch der Moment als Erdung des Ereignisses wird zunehmend unwichtig, und so steht der alte Mann am Ende seines Lebens für eine Fotografie, die mit ihm auszusterben droht. Die aktive Generation, die Avantgarde der gegenwärtigen Lichtbildner, schöpft ihre Möglichkeiten aus einem Meer digitaler Angebote. Da hat die „Realität“ nur noch wenig Gewicht, Pixeldokument und Software drängen die Fotografie zur Fortsetzung der Schöpfung. Der achte Tag ist längst angebrochen.

Das war abzusehen. Seit zehn Jahren schon drängt die digitale Fotografie in den Markt der aktuellen Berichterstattung. Kein Agenturfotograf, auch kein Bildberichter einer Tageszeitung (es sei denn, er wäre ein unverbesserlicher Romantiker) fotografiert heute noch auf chemischem Trägermaterial.

Auch der Amateurmarkt wird längst umgeschichtet, digitale Fotografie verspricht einer der letzten Wachstumsmärkte einer gebeutelten Industrie zu werden. Da will keiner im nostalgischen Abseits übrig bleiben. Ähnlich dem analogen Vinyl nach Einführung der digitalen CD droht auch dem Zelluloid ein Nischendasein.

Das elektronische Material ist geduldiger als Papier, es lässt fast jede Manipulation mit sich geschehen, ohne Komplikationen. Inzwischen erkennen nur noch geschulte Experten ein digital bearbeitetes Bild. In der Modefotografie, stets die Heimat wohlstandshungriger Avantgardisten, strebt diese Entwicklung ihrem Höhepunkt zu. Waren dort vor fünf Jahren noch die Bilder eines Jürgen Teller oder Wolfgang Tillmanns gefragt, beide schonungslose Vertreter der realistischen Bildersprache, die selbst Supermodels ungestraft im grellen Blitzlicht verunstalten durften, so sind es heute die neuen Arbeiten des Franzosen Jean-Baptiste Mondino oder jene des Dänen Sølve Sundsbø, der seine unbekannten Akteure in der digitalen Nachbearbeitung mit einer makellos glänzenden Haut und knitterfreier Kleidung beglückt. Da dauert die Mutation am Bildschirm inzwischen zehnmal länger als der vorangegangene Fototermin im Studio. Auch der Abgebildete verliert sein Selbst, die Grenze zur Malerei verschwimmt.

Dasselbe gilt für die Arbeiten von Thomas Ruff, einem der wichtigsten Vertreter der so genannten Becher-Schule, der Fotoklasse der Düsseldorfer Angewandten. Ruffs Lehrer, Bernd und Hilla Becher, wurden mit ihren hyperrealistischen Großaufnahmen vergänglicher Industriearchitektur bekannt, sie wählten für ihre Abbildungen riesige Negativformate und kreierten mittels maximaler Tiefenschärfe und langer Belichtungszeit einen Blick auf das Objekt, wie ihn kein Auge liefern kann.

Ruff, der die riesigen Abzüge seiner „Phantombilder“ – verschwommene Doppelporträts, die bei der Biennale in Venedig 1995 als eine der ersten bedeutenden Fotoarbeiten zeitgenössischer Kunst ausgestellt wurden – noch in einer herkömmlichen Dunkelkammer herstellen ließ, digitalisiert und verfremdet nun belichtete Vorlagen (teilweise sogar von andern Urhebern) und schickt seine Werke auf CD komprimiert an die Verlage.

Die kleinen sexy Silberscheiben – Ruffs Verleger Lothar Schirmer ortet im Digitalen auch die Erotik des Modernen – ersparen dem Fotografen nicht die Ausbelichtung eines Referenzbildes. Zu unterschiedlich bleiben die vielen Bildschirmimpressionen, doch die Druckerei bedarf verlässlich überlieferter Farben und Kontraste.

Auch Ruffs prominentester Kollege, der Fotograf Andreas Gursky, dessen monumentale Bilder bei Versteigerungen inzwischen mit einer viertel Million Euro ausgerufen werden, manipuliert die Strukturen seiner Werke mithilfe digitaler Tricks. So vereint er das Herkömmliche mit dem Neuen, ohne dem Analogen Schärfe und Ausstrahlungskraft zu nehmen.

Ganz anderes hat der Österreicher Edgar Honetschläger im Sinn. Der Maler, Filmemacher und Fotograf belichtet die fotografische Basis seiner ironischen Bilder mit einer kleinen Digitalkamera, wie sie auch der anspruchsvolle Amateur im Urlaub mitführt. Honetschläger verteidigt die Fahlheit und unterdrückte Dimensionalität seiner Bilder und erklärt sie zu einer gültigen Repräsentation seiner Umwelt. Wie auch die New Yorkerin Natasha Merritt, die ihre erotischen Fantasien schon vor drei Jahren auf Chip bannte, ist Honetschläger einer der wenigen konsequenten Anwender des kompletten digitalen Angebots. Die meisten anderen Vertreter der fotografischen Avantgarde, die sich gern mit dem Lorbeer der Digitalität schmücken, setzten lediglich ihre analogen, auf herkömmlichem Film belichteten Aufnahmen den Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung aus.

Inzwischen horten die Mitarbeiter Henri Cartier-Bressons ganze Kästen des wertvollen silberhältigen Fotopapiers. Sie haben Angst, die Industrie könnte die Produktion bald ganz einstellen, da nur mehr wenige Fanatiker des Analogen sich die mühsame Arbeit in der Dunkelkammer antun. Ein Team ist damit beschäftigt, die von Cartier-Bresson ausgewählten Motive zu vergrößern, und nur die Unterschrift des Meisters beglaubigt die Authentizität seines Werks. Dieses Ritual mag – angesichts der Möglichkeiten moderner Farbdrucker – schrullig wirken, doch in der Fotografie bleibt der Abzug vom traditionellen Negativ noch lange der einzige universale Standard. Der letzte womöglich.

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