Im August feiert Henri
Cartier- Bresson seinen 95. Geburtstag. Mehrere Ausstellungen, eine
davon in Wien, würdigen sein epochales Werk. profil-Fotochef Manfred
Klimek über das Ende der alten und den Siegeszug der digitalen
Fotografie.
Manchmal, meistens morgens, so berichten
die wenigen verbliebenen Lebensbegleiter, öffnet Henri
Cartier-Bresson die Fenster seiner Pariser Wohnung und fotografiert
hinab. Hinab in das Leben seiner Straße. Aus erhöhter Perspektive
fallen die Schatten länger, die Figuren der Menschen dort unten
verkürzen sich zum Ausgangspunkt ihres lichtundurchlässigen Abbilds.
Solche Fotos hat Cartier-Bresson, der am 22. August dieses
Jahres seinen 95. Geburtstag feiert, immer gerne gefertigt. Tausende
Amateure haben es ihm nachgemacht. Eine endlose Serie von
Belichtungen. Dennoch juckt es den Greis noch im Finger, das kleine
Detail will er noch einmal festhalten. Sein Hauptwerk jedoch ist
längst getan: Henri Cartier-Bresson hat der Fotografie einen Namen
gegeben.
Ja, es gibt auch Fotos von Ansel Adams und Henri
Lartique (die beide längst tot sind), es gibt die Modischen, die
Obszönen und die Versponnenen. Belichtung meets Luxus: Das ist nicht
zuletzt ein Geschäft, etwa für den Kölner Verleger Benedikt Taschen,
der die Fotografie in die Bücherregale der Villenviertel zauberte.
Ein Bildersturm, hin zur Massentauglichkeit und zugleich chemischer
Schlussakt der Malerei – freilich nur, was die technische
Entwicklung anlangt.
Henri Cartier-Bressons Bilder finden,
unter die anderen gereiht, in dieser Galerie des Möglichen und
Inszenierten keinen Platz. Er betrieb die Fotografie aus Empathie.
Und weil sie ein gutes Leben versprach.
Mit ihm, als aktivem
Arbeiter, ging auch die Reportage verloren, jene Gattung
Bildjournalismus, die Magazine wie „Life“ oder „Stern“ zu dem
machte, was sie sein konnten, solange die Bildvernichtungsmaschine
deren Platz noch nicht endgültig eingenommen hatte.
Was
Cartier-Bresson mit seiner Arbeit auslöste, war mehr, als sein Werk
selbst vermitteln kann. Angesichts seines unbestritten epochalen
Einflusses auf das Genre wirkt sein OEuvre seltsam blass. Beim
ersten Hinsehen. Erst beim zweiten, vierten, zehnten Blick erkennt
man die Finesse seines Sehens, die Zugewandtheit zum Augenblick. Man
ahnt die Vorgeschichte des Fotos, sein Entstehen, sieht den
Fotografen die Handlung verfolgen, den Zufall einplanen. Und man
hört sein „Klick“, das Auslösen der Kamera.
Cartier-Bressons
Geheimnis ist, dass er sich von technischem Schnickschnack nie
beeindrucken ließ, dass ihn die technische Progression weder
beeinflussen noch beirren konnte. Seine Kamera war eine Leica, seine
Kamera ist eine Leica. Selbst wenn die kleine Kameraschmiede aus
Solms nun den Tabubruch vollzogen hat und mithilfe eines japanischen
Elektronikkonzerns eine Digitalkamera baut.
Und obwohl
anzunehmen ist, dass Cartier-Bresson auch andere Objektive besitzt
als das standardmäßig mitgelieferte Normalobjektiv, hat er die
meisten Aufnahmen mit dieser banalen Brennweite fotografiert. Er
lehrte alle Fotografen, dass es auf das Entern des Moments ankommt,
auf nichts anderes.
Das macht ihn zu einem
Ausnahmehandwerker, der sich immer konsequent jeder Vermarktung
widersetzt hat. Cartier-Bresson war und ist ein Unantastbarer, auch
deshalb, weil seine Fotografie als Kunstform lange verkannt
wurde.
Nun steht sie im Rampenlicht, ist Geld wert.
Cartier-Bressons Fotos erreichen den Kunstmarkt, von Galeristen
glühend gepriesen. Nicht wenige verdächtigen den unbestechlichen
Reporter Cartier-Bresson nun, die Menschen positioniert, die
Realitäten im Sinne des Bildes geformt zu haben. Das mag ein Teil
der Wahrheit sein, aber selbst wenn da und dort nachgeholfen wurde:
Der Moment lässt sich nur drängen, niemals
domestizieren.
Doch der Moment als Erdung des Ereignisses
wird zunehmend unwichtig, und so steht der alte Mann am Ende seines
Lebens für eine Fotografie, die mit ihm auszusterben droht. Die
aktive Generation, die Avantgarde der gegenwärtigen Lichtbildner,
schöpft ihre Möglichkeiten aus einem Meer digitaler Angebote. Da hat
die „Realität“ nur noch wenig Gewicht, Pixeldokument und Software
drängen die Fotografie zur Fortsetzung der Schöpfung. Der achte Tag
ist längst angebrochen.
Das war abzusehen. Seit zehn Jahren
schon drängt die digitale Fotografie in den Markt der aktuellen
Berichterstattung. Kein Agenturfotograf, auch kein Bildberichter
einer Tageszeitung (es sei denn, er wäre ein unverbesserlicher
Romantiker) fotografiert heute noch auf chemischem Trägermaterial.
Auch der Amateurmarkt wird längst umgeschichtet, digitale
Fotografie verspricht einer der letzten Wachstumsmärkte einer
gebeutelten Industrie zu werden. Da will keiner im nostalgischen
Abseits übrig bleiben. Ähnlich dem analogen Vinyl nach Einführung
der digitalen CD droht auch dem Zelluloid ein
Nischendasein.
Das elektronische Material ist geduldiger als
Papier, es lässt fast jede Manipulation mit sich geschehen, ohne
Komplikationen. Inzwischen erkennen nur noch geschulte Experten ein
digital bearbeitetes Bild. In der Modefotografie, stets die Heimat
wohlstandshungriger Avantgardisten, strebt diese Entwicklung ihrem
Höhepunkt zu. Waren dort vor fünf Jahren noch die Bilder eines
Jürgen Teller oder Wolfgang Tillmanns gefragt, beide schonungslose
Vertreter der realistischen Bildersprache, die selbst Supermodels
ungestraft im grellen Blitzlicht verunstalten durften, so sind es
heute die neuen Arbeiten des Franzosen Jean-Baptiste Mondino oder
jene des Dänen Sølve Sundsbø, der seine unbekannten Akteure in der
digitalen Nachbearbeitung mit einer makellos glänzenden Haut und
knitterfreier Kleidung beglückt. Da dauert die Mutation am
Bildschirm inzwischen zehnmal länger als der vorangegangene
Fototermin im Studio. Auch der Abgebildete verliert sein Selbst, die
Grenze zur Malerei verschwimmt.
Dasselbe gilt für die
Arbeiten von Thomas Ruff, einem der wichtigsten Vertreter der so
genannten Becher-Schule, der Fotoklasse der Düsseldorfer
Angewandten. Ruffs Lehrer, Bernd und Hilla Becher, wurden mit ihren
hyperrealistischen Großaufnahmen vergänglicher Industriearchitektur
bekannt, sie wählten für ihre Abbildungen riesige Negativformate und
kreierten mittels maximaler Tiefenschärfe und langer Belichtungszeit
einen Blick auf das Objekt, wie ihn kein Auge liefern
kann.
Ruff, der die riesigen Abzüge seiner „Phantombilder“ –
verschwommene Doppelporträts, die bei der Biennale in Venedig 1995
als eine der ersten bedeutenden Fotoarbeiten zeitgenössischer Kunst
ausgestellt wurden – noch in einer herkömmlichen Dunkelkammer
herstellen ließ, digitalisiert und verfremdet nun belichtete
Vorlagen (teilweise sogar von andern Urhebern) und schickt seine
Werke auf CD komprimiert an die Verlage.
Die kleinen sexy
Silberscheiben – Ruffs Verleger Lothar Schirmer ortet im Digitalen
auch die Erotik des Modernen – ersparen dem Fotografen nicht die
Ausbelichtung eines Referenzbildes. Zu unterschiedlich bleiben die
vielen Bildschirmimpressionen, doch die Druckerei bedarf verlässlich
überlieferter Farben und Kontraste.
Auch Ruffs prominentester
Kollege, der Fotograf Andreas Gursky, dessen monumentale Bilder bei
Versteigerungen inzwischen mit einer viertel Million Euro ausgerufen
werden, manipuliert die Strukturen seiner Werke mithilfe digitaler
Tricks. So vereint er das Herkömmliche mit dem Neuen, ohne dem
Analogen Schärfe und Ausstrahlungskraft zu nehmen.
Ganz
anderes hat der Österreicher Edgar Honetschläger im Sinn. Der Maler,
Filmemacher und Fotograf belichtet die fotografische Basis seiner
ironischen Bilder mit einer kleinen Digitalkamera, wie sie auch der
anspruchsvolle Amateur im Urlaub mitführt. Honetschläger verteidigt
die Fahlheit und unterdrückte Dimensionalität seiner Bilder und
erklärt sie zu einer gültigen Repräsentation seiner Umwelt. Wie auch
die New Yorkerin Natasha Merritt, die ihre erotischen Fantasien
schon vor drei Jahren auf Chip bannte, ist Honetschläger einer der
wenigen konsequenten Anwender des kompletten digitalen Angebots. Die
meisten anderen Vertreter der fotografischen Avantgarde, die sich
gern mit dem Lorbeer der Digitalität schmücken, setzten lediglich
ihre analogen, auf herkömmlichem Film belichteten Aufnahmen den
Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung aus.
Inzwischen
horten die Mitarbeiter Henri Cartier-Bressons ganze Kästen des
wertvollen silberhältigen Fotopapiers. Sie haben Angst, die
Industrie könnte die Produktion bald ganz einstellen, da nur mehr
wenige Fanatiker des Analogen sich die mühsame Arbeit in der
Dunkelkammer antun. Ein Team ist damit beschäftigt, die von
Cartier-Bresson ausgewählten Motive zu vergrößern, und nur die
Unterschrift des Meisters beglaubigt die Authentizität seines Werks.
Dieses Ritual mag – angesichts der Möglichkeiten moderner
Farbdrucker – schrullig wirken, doch in der Fotografie bleibt der
Abzug vom traditionellen Negativ noch lange der einzige universale
Standard. Der letzte womöglich.