Die Doppelstaatsbürgerin Canan Dagdelen
thematisiert den Verlust von Heimat in ihren Installationen
Schwebezustand des Unterschlupfs
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Ein verkehrtes Gebäude soll an Entwurzelung und den Verlust von Heimat
erinnern ("Insciption dot/ Kitabesi dot"). Foto: Emre Ogan
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Von Brigitte
Borchhardt- Birbaumer
![Aufzählung Aufzählung](00092382-Dateien/wzfeld.gif)
Dagdelen
nimmt der Architektur ihre Schwere.
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Ihr Hauptthema ist die Bodenlosigkeit einer
mobilen Menschheit.
Wien. Unsere postmoderne Bildwelt wird
von Pixel und Punkt bestimmt – diese kleinsten Zeichen haben auch
Auswirkung auf die Kommunikation. Ohne "dotcom" funktioniert keine
Technologie mehr. Die 1960 in Istanbul geborene Canan Dagdelen setzt die
Punkte als Kugeln aus Limoge-Porzellan oder Metall mit einer subtilen,
poetischen und minimalistischen Sprache für ihre Rauminstallationen ein.
Architekturformen und Schrift sind ihr wichtig.
"Ich löse die Bauwerke, die architektonischen Grundformen in
Kugelformen auf, die ich mit ‚dot‘ erkläre und entorte die Architektur
von ihrem festen Standpunkt" sagt die zwischen Istanbul, Wien und
anderen Ausstellungsorten weltweit hin- und herpendelnde Künstlerin.
Mehr als 500 Kugeln in Ockerfarbe hängen an Schnüren von der Decke der
Ausstellungsräume. Sie formen einen überkuppelten Zentralbau. Das
Gebäude befindet sich freilich in einer verdrehten Position. Für die
Betrachter ist es eine am Kopf oder seitlich gekippte Modellform eines
leicht erkennbaren Zentralbaus, wie wir ihn aus der Türkei oder von
vorislamischen Bauten an der Seidenstraße in Asien her kennen.
Verschiedene Völker nutzen ihn als Sakralraum wie als Herberge.
Im Ausstellungsraum besteht die Installation aber auch aus dem
Luftraum zwischen den Kugelschnüren und dies nimmt der Architektur ihre
Schwere und Bodenhaftung. Die Umkehr des Gebäudes soll uns an
Entwurzelung, den Verlust von Heimat erinnern, aber auch auf den
Schwebezustand eines gefundenen Unterschlupfs hinweisen.
"Somit definiere ich Inhalte wie Migration, Sesshaftigkeit und
Zugehörigkeit über die Architektur mit einer soziologischen Betrachtung
und stelle sie in Frage – oder richte sozusagen einen soziologischen
Blick auf die Architektur" sagt die 1980 zum Kunst- und
Wirtschaftsstudium nach Wien gekommene Dagdelen. Mittlerweile
unterrichtet sie schon seit Jahren auf Kunstunis in Wien und Linz. Die
Lehre, ihre türkisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft und das
Atelier im siebenten Wiener Gemeindebezirk erfordern leider eine gewisse
Sesshaftigkeit von ihr. Hauptthema ist bei ihr die Bodenlosigkeit einer
ständig durch Flucht oder Tourismus mobilen Menschheit.
Eine 5000 Jahre alte Technik wird wieder aktuell
In einer weiteren Sinnschicht ihres Konzepts aktualisiert sie die
Frühgeschichte von Ur und Babylon. Auch dort wurde keramische Technik
nicht nur für Gebrauchsgegenstände wie Geschirr verwendet, sondern auch
als Tonstiftmosaik zur Verkleidung von Palästen benutzt, als Schmuck und
Schutz gleichermaßen. Dagdelen bezieht die alte Technik und ihre
Materialien in die komplexen Inhalte mit ein: verbunden mit einer
Fotografie, die eine traditionell gekleidete Türkin mit ihrem Kind in
Wien zeigt, wird das Tonstiftmosaik zu einer wieder aktuellen Technik,
die uns an die Punktwahrnehmung in der analogen Fotografie erinnert.
Dabei wird auch das Verhüllen doppeldeutig – zum einen ist der Schleier
Schutz vor und Verweigerung von Konsum, zum anderen bildet sich mit ihm
ein politischer Körper.
Besonders reizvoll an unserer demokratisch vielschichtigen Gegenwart
findet die Künstlerin das Vereinen von Denkgegensätzen, die sie in ihrem
Werk durch die Gleichzeitigkeit von Leere und Fülle, Teil und Ganzem,
Virtuellem und Realem aufzeigt. Die Vielschichtigkeit entspricht
aktuellen demokratischen Kunstpraktiken. Ebenso kommen bei ihr auch
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, verschiedene Mentalitäten,
Konstruktion und Dekonstruktion zusammen, wenn sie mit ihren
eingehängten Grundrissformen arbeitet.
Im MAK zeigte Dagdelen 2005 mit "yurt tutmusch dot" ihr erstes
archaisches Hausmodell – der Titel besagt, dass die Yurte (das Zelthaus
als Urform menschlicher Bleibe) in der Fremde eine Heimat gefunden hat.
2005/06 integrierte "Alternative Paradise" im Museum of Contemporary Art
im japanischen Kanazawa zum schräg eingehängten Hausmodell aus Kugeln
auch einen in die Luft geschriebenen Schriftzug. "Nonplace dot" hängt
als luftiger Schriftzug seit 2009 permanent im Istanbuler Kulturzentrum
der dortigen Biennale. Im Jahr 2010 gewann Dagdelen neben lauter
Architekten einen Wettbewerb mit 490 Lichtkugeln, die das Wort "Selam"
zwischen den vier Minaretten der Sultan Süleymaniye Moschee in den Raum
schreiben. Es war eine Initiative von Istanbul 2010/11 Europäische
Kulturhauptstadt.
"In meinen neuen Werken ist die Schrift eine im Raum geschriebene
Architektur" erklärt sie ihre Siegerposition in der Mahya Design
Competition. Der Schriftduktus eingehängter Metall- oder Porzellankugeln
bringt zum Hausmodul die Sprache ins Spiel, die seit den Sumerern
wesentlicher Faktor kultureller Identität ist. Leitmotivisch erinnert
der eigene Schriftzug an die Familientradition – der Ururgroßvater war
Kalligraph und die polyglotte Tante unterrichtete bis vor kurzem
Opernsänger. Auch sie selbst lebt in mindestens drei Sprachen und statt
dem Ewigkeitsanspruch der Architektur ist ihr Konzept dezentrale Hülle,
das birgt eine "Möglichkeit in einem Raum platzlos Platz zu nehmen."
Neben Archäologie der Gegenwart bildet die Künstlerin Bezüge zu
großer Poesie – einerseits zum Perlengleichnis als Urtext zur Toleranz
in Lessings "Nathan der Weise" und zu Goethes Textsammlung
"West-Östlicher Divan". Denn alle Perlenglieder einer Kette sind
gleichwertig im toleranten Dialog und das Eins- und Doppeltsein in der
Welt ist unsere Bestimmung, wir sind, wie auch das Ginkoblatt in zwei
Teile gespalten. Vom dynamischen Istanbul in das ruhigere Wien und
zurück – der Abschied vom traditionellen Heimatbegriff bedeutet eine
erweiterte Wahrnehmung des Raumes und Daseins.
Link
Website
Canan Dagdelen
Printausgabe vom Dienstag, 22.
Februar 2011
Online seit: Montag, 21. Februar 2011 17:43:00