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Kunstberichte
Die Doppelstaatsbürgerin Canan Dagdelen thematisiert den Verlust von Heimat in ihren Installationen

Schwebezustand des Unterschlupfs

Ein verkehrtes Gebäude 
soll an Entwurzelung und den Verlust von Heimat erinnern 
("Insciption dot/ Kitabesi dot"). Foto:  Emre Ogan

Ein verkehrtes Gebäude soll an Entwurzelung und den Verlust von Heimat erinnern ("Insciption dot/ Kitabesi dot"). Foto: Emre Ogan

Von Brigitte Borchhardt- Birbaumer

Aufzählung Dagdelen nimmt der Architektur ihre Schwere.
Aufzählung Ihr Hauptthema ist die Bodenlosigkeit einer mobilen Menschheit.

Wien. Unsere postmoderne Bildwelt wird von Pixel und Punkt bestimmt – diese kleinsten Zeichen haben auch Auswirkung auf die Kommunikation. Ohne "dotcom" funktioniert keine Technologie mehr. Die 1960 in Istanbul geborene Canan Dagdelen setzt die Punkte als Kugeln aus Limoge-Porzellan oder Metall mit einer subtilen, poetischen und minimalistischen Sprache für ihre Rauminstallationen ein. Architekturformen und Schrift sind ihr wichtig.

"Ich löse die Bauwerke, die architektonischen Grundformen in Kugelformen auf, die ich mit ‚dot‘ erkläre und entorte die Architektur von ihrem festen Standpunkt" sagt die zwischen Istanbul, Wien und anderen Ausstellungsorten weltweit hin- und herpendelnde Künstlerin. Mehr als 500 Kugeln in Ockerfarbe hängen an Schnüren von der Decke der Ausstellungsräume. Sie formen einen überkuppelten Zentralbau. Das Gebäude befindet sich freilich in einer verdrehten Position. Für die Betrachter ist es eine am Kopf oder seitlich gekippte Modellform eines leicht erkennbaren Zentralbaus, wie wir ihn aus der Türkei oder von vorislamischen Bauten an der Seidenstraße in Asien her kennen. Verschiedene Völker nutzen ihn als Sakralraum wie als Herberge.

Im Ausstellungsraum besteht die Installation aber auch aus dem Luftraum zwischen den Kugelschnüren und dies nimmt der Architektur ihre Schwere und Bodenhaftung. Die Umkehr des Gebäudes soll uns an Entwurzelung, den Verlust von Heimat erinnern, aber auch auf den Schwebezustand eines gefundenen Unterschlupfs hinweisen.

"Somit definiere ich Inhalte wie Migration, Sesshaftigkeit und Zugehörigkeit über die Architektur mit einer soziologischen Betrachtung und stelle sie in Frage – oder richte sozusagen einen soziologischen Blick auf die Architektur" sagt die 1980 zum Kunst- und Wirtschaftsstudium nach Wien gekommene Dagdelen. Mittlerweile unterrichtet sie schon seit Jahren auf Kunstunis in Wien und Linz. Die Lehre, ihre türkisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft und das Atelier im siebenten Wiener Gemeindebezirk erfordern leider eine gewisse Sesshaftigkeit von ihr. Hauptthema ist bei ihr die Bodenlosigkeit einer ständig durch Flucht oder Tourismus mobilen Menschheit.

Eine 5000 Jahre alte Technik wird wieder aktuell

In einer weiteren Sinnschicht ihres Konzepts aktualisiert sie die Frühgeschichte von Ur und Babylon. Auch dort wurde keramische Technik nicht nur für Gebrauchsgegenstände wie Geschirr verwendet, sondern auch als Tonstiftmosaik zur Verkleidung von Palästen benutzt, als Schmuck und Schutz gleichermaßen. Dagdelen bezieht die alte Technik und ihre Materialien in die komplexen Inhalte mit ein: verbunden mit einer Fotografie, die eine traditionell gekleidete Türkin mit ihrem Kind in Wien zeigt, wird das Tonstiftmosaik zu einer wieder aktuellen Technik, die uns an die Punktwahrnehmung in der analogen Fotografie erinnert. Dabei wird auch das Verhüllen doppeldeutig – zum einen ist der Schleier Schutz vor und Verweigerung von Konsum, zum anderen bildet sich mit ihm ein politischer Körper.

Besonders reizvoll an unserer demokratisch vielschichtigen Gegenwart findet die Künstlerin das Vereinen von Denkgegensätzen, die sie in ihrem Werk durch die Gleichzeitigkeit von Leere und Fülle, Teil und Ganzem, Virtuellem und Realem aufzeigt. Die Vielschichtigkeit entspricht aktuellen demokratischen Kunstpraktiken. Ebenso kommen bei ihr auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, verschiedene Mentalitäten, Konstruktion und Dekonstruktion zusammen, wenn sie mit ihren eingehängten Grundrissformen arbeitet.

Im MAK zeigte Dagdelen 2005 mit "yurt tutmusch dot" ihr erstes archaisches Hausmodell – der Titel besagt, dass die Yurte (das Zelthaus als Urform menschlicher Bleibe) in der Fremde eine Heimat gefunden hat. 2005/06 integrierte "Alternative Paradise" im Museum of Contemporary Art im japanischen Kanazawa zum schräg eingehängten Hausmodell aus Kugeln auch einen in die Luft geschriebenen Schriftzug. "Nonplace dot" hängt als luftiger Schriftzug seit 2009 permanent im Istanbuler Kulturzentrum der dortigen Biennale. Im Jahr 2010 gewann Dagdelen neben lauter Architekten einen Wettbewerb mit 490 Lichtkugeln, die das Wort "Selam" zwischen den vier Minaretten der Sultan Süleymaniye Moschee in den Raum schreiben. Es war eine Initiative von Istanbul 2010/11 Europäische Kulturhauptstadt.

"In meinen neuen Werken ist die Schrift eine im Raum geschriebene Architektur" erklärt sie ihre Siegerposition in der Mahya Design Competition. Der Schriftduktus eingehängter Metall- oder Porzellankugeln bringt zum Hausmodul die Sprache ins Spiel, die seit den Sumerern wesentlicher Faktor kultureller Identität ist. Leitmotivisch erinnert der eigene Schriftzug an die Familientradition – der Ururgroßvater war Kalligraph und die polyglotte Tante unterrichtete bis vor kurzem Opernsänger. Auch sie selbst lebt in mindestens drei Sprachen und statt dem Ewigkeitsanspruch der Architektur ist ihr Konzept dezentrale Hülle, das birgt eine "Möglichkeit in einem Raum platzlos Platz zu nehmen."

Neben Archäologie der Gegenwart bildet die Künstlerin Bezüge zu großer Poesie – einerseits zum Perlengleichnis als Urtext zur Toleranz in Lessings "Nathan der Weise" und zu Goethes Textsammlung "West-Östlicher Divan". Denn alle Perlenglieder einer Kette sind gleichwertig im toleranten Dialog und das Eins- und Doppeltsein in der Welt ist unsere Bestimmung, wir sind, wie auch das Ginkoblatt in zwei Teile gespalten. Vom dynamischen Istanbul in das ruhigere Wien und zurück – der Abschied vom traditionellen Heimatbegriff bedeutet eine erweiterte Wahrnehmung des Raumes und Daseins.

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Aufzählung Website Canan Dagdelen

 

Printausgabe vom Dienstag, 22. Februar 2011
Online seit: Montag, 21. Februar 2011 17:43:00

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