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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst 
19. Oktober 2006
19:18 MESZ
Bis 11. Februar  
Foto: Mumok
Der Weg zum Selbstverständnis beginnt immer mit einem Akt der Aneignung: "The artist who swallowed the world" von Erwin Wurm aus dem Jahr 2006.

Der ausgeweitete Kunstbegriff: Erwin Wurm im MuMoK
Im Wiener Museum moderner Kunst parkt Wurm die Schlager seiner aktuellen Welttournee: "Keep a Cool Head"

... sagt er zum Auftakt - und zeigt gelassen, zu welchen Deformationen das gemeine Leben so führen kann.


Wien - All das kann einem schon gewaltig auf die Nerven gehen: die Documenta, das Guggenheim Museum, die Art Basel, der Wittgenstein. Der Adorno sowieso. Behauptet der doch einfach: "Es gibt kein wahres Leben im Falschen", oder auch, dass der Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes "ein Vieles" wäre. Man muss sich das einmal vorstellen. Zumal, wenn man Künstler ist.

Und mit Brancusi die Skulptur längst schon auf Teufel komm raus vereinfacht worden ist und Picasso Duchamp erstens gezeigt hat, dass so ein Readymade auch lustig sein kann und man zweitens gar nicht so arg viel Zeit braucht, um längst Fertiges zu konzipieren. Und es ist gerade Anfang der 80er-Jahre, und man liefert Wilfried Skreiner untadelige Skulpturen an die Grazer Neue Galerie, auf dass der die - es folgt eine Aufgabe, die seither kein heimischer Museumsdirektor ähnlich engagiert wahrgenommen hat - zum Ruhm, ans Licht führen würde.

Alles also läuft gut. Und dann überfällt einen urplötzlich die Krankheit der Mönche: Akedia, das Gefühl, dass alles öd und leer geworden, aufgeben aber gerade jetzt völlig uncool ist. Und Künstler ist sowieso jener, der gerade jetzt weitermacht, auch in Momenten wie diesen selbst dieses Leben bewältigt.

Wer da nicht dem Suff verfällt oder dem Liebreiz eines Einschichthofes im strengen Waldviertel, der hat zumindest die Chance, auch nach den 80ern die Kunst Österreichs mitzubestimmen und - die Globalisierung ist eben am Dämmern - auch jene weit darüber hinaus.

Als so einen kann man sich Erwin Wurm vorstellen, einen, der alles bedenkt, ob dieser Fähigkeit jetzt aber nicht auf das Körperliche vergisst. Wurm bleibt hart, bleibt Bildhauer. Und wechselt genau deswegen das Medium. Oberflächlich betrachtet wechselt er zur Fotografie über, eigentlich aber zur Dichtung. Er beginnt, den Begriff von Skulptur auszuweiten, indem er unterschiedlichste Körper - oder sonst ein Material - in Stoffe steckt, die seit spätestens nach dem Krieg landläufig mit dem Attribut "stretch" verbunden werden. Wenn man so will, zeigt er Elfi Semotan und damit dem Wäschereich Palmers, was wirklich passiert, wenn einer sich traut.

Wurm geht dabei bis an die Grenzen, ist so derart behutsam brachial, dass letztlich doch nichts reißt, so ein Slip bei doppelter Belegung zwar seine Form verliert, nicht aber seine Integrität als Hülle. Ein Schlitz nur - und gerade Wurm würde sich selbst des Lucio-Fontanans bezichtigen.

Chef-Apodiktiker

Lucio Fontana gehört mit Adorno, Brancusi, der Art Basel, dem Guggenheim und Ludwig Wittgenstein in die Reihe jener, die einem gewaltig auf die Nerven gehen können. Weil - die 80er-Jahre gehen in die 90er-Jahre über, der Begriff "Karriere" verfestigt sich als Notwendigkeit in allen Schichten aller Lager, und Kuratoren sind auch schon längst den Bibliotheksschluchten hin zum Licht entwachsen: Die alle haben etwas nicht Widerlegbares, etwas unbedingt Richtiges, etwas unmittelbar Gewisses, etwas logisch total Notwendiges behauptet.

Und also ist auch Erwin Wurm zwangsläufig auf die Modalitätslogik gekommen, hat sich die Apodiktik zu Eigen gemacht. Und hat gesehen, dass es gut war. Sogar sehr gut. "The Artist who swallowed the world" hat sich endlich entpuppt. Abgefallen ist plötzlich jeder nationale Wille zur Expression aus der Sicht des unmittelbar Beteiligten, weggelegt jedes rabiate Kommentarbedürfnis, überwunden der Zwang zum Mitsuhlen im Leid des jeweils Nächsten.

Plötzlich hat auch Erwin Wurm diese Übersicht, mit einem Mal steht er zum Geschehen auf Distanz. Und damit steht ihm, der fortan keinen Übersetzer mehr beschäftigten muss, die Welt offen. "Wurm und wie er die Welt sah" ist noch lange nicht wegzudenken: Aachen, St. Gallen, Hamburg, Wien, Lyon sind nur die nächsten Stops der laufenden Welttournee des sicher entwaffnendsten der zeitgenössischen Moralisten.

Seiner Beweiskraft erliegen global die Menschen, fügen sich für Minuten zu Skulpturen, wachsen am Erlebnis, für Momente nur begehrtes Objekt zu sein. Selbst Porsches finden neuerdings zu ihrer Mitte, vergessen kurz aufs Six-pack und zeigen gelassen ihre Schwarten. Wurstsemmeln klappen Treppen aus, um die Bürger ins gelobte Land zu laden, Spargelspitzen finden endlich in die Nasenlöcher, und gepriesen sei der Hund, der Briefkästen verschluckt und dennoch das tägliche Leben nicht infrage stellt.

Erwin Wurm zeigt auch im Mumok wieder, was wir uns so zumuten, welche Angebote wir bereit sind, freudig anzunehmen. Aus dem gebastelten Witz ist längst ein handwerklich untadlig gefertigtes Kompendium geworden, ein Endlosband mit Handlungsanweisungen für alle Fälle. Und das Einfamilienhaus am Museumsdach? Einfach die Situation umdrehen, und mit Museen flächendeckend gegen die Einfamilienhäuser vorgehen. (Markus Mittringer / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.10.2006)


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