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06.09.2004 - Kultur&Medien / Kultur News
Ars Electronica: Aber das Fleisch ist schwach
VON THOMAS KRAMAR
Die Zukunft ist (zumindest auch) körperlich, findet man bei der 25. Ars Electronica: So schwimmt, schwankt, tanzt und singt man in Linz.

Wo liegt die Zukunft? Im Ende (des Endes) der Geschichte? In Flexibili-, Globali-, Liberalisie rung? Im Heimwerkertum? Im Schrebergarten? Im Kampf der Zivilisationen? Lassen wir das. Die Zukunft liegt, unter anderem, "im Content", "jenseits von Kunst", "in der performativen Sicht", "in der Forschungsorientierung", "in der Kritik".

Zu diesen Ergebnissen ist Gerhard Dirmoser, Systemanalytiker und Ars-Electronica-Besucher von 1979 bis heute, bei einer eindrucksvollen Studie über 25 Festival-Jahre gekommen. Er meint natürlich - das wurde bei seinem Beitrag zum ganz à la Sloterdijk "Topia" genannten Symposium bald klar - nicht die Zukunft der großen Welt, sondern die der Ars Electronica.

Die ja mit jener verbunden, um nicht zu sagen: vernetzt ist. Und der es dadurch oft gelang, verblüffend avantgardistisch zu sein - in ihrem ureigensten Terrain, der Ausbreitung neuer (Medien-)Technologien. Aber nicht immer: Am ältesten sehen heute wohl die Cyber-Fantasien aus. Viele Künstler und Modephilosophen haben die Begierde der Menschen, durch virtuelle Realitäten jenseits von Grottenbahnen zu reisen, überschätzt. Es ist wohl auch schwieriger geworden, sich als transponierbares Geistwesen zu verstehen, wenn einem klar gemacht wird, dass auch Gesundheit, Intaktheit des Körpers als Ware zu verstehen ist. Dazu kommt eine Trendwende in der Hirnwissenschaft: Antonio Damasio und viele anderen erklären, dass und wie Gefühle den Verstand und das Bewusstsein prägen, und Gefühle hängen am Körper, am Fleisch.

So findet sich die Ars Electronica heuer immer wieder dort, wo sie schon 1997 programmatisch war: beim "Flesh Factor", beim alten, verletzlichen, begierigen, hinfälligen Fleisch. "Die Zukunft interessiert sich für den Leib", sagt auch Dirmoser. Dass "Elektrizität", wie der sonst brillante McLuhan-Schüler Derrick de Kerckhove meinte, "emergentes Bewusstsein schafft", ist ein Unsinn: Wir kennen kein Bewusstsein, das nicht mit einem Körper verbunden ist. Nur von der Cheshire Cat in "Alice im Wunderland" bleibt ein körperloses Lächeln. Anderen Wesen tut bald das Gesicht weh. Zu studieren ist das vor "Cheese" im Ars Electronica Center: Man sieht die Gesichter von Schauspielerinnen, denen angeschafft wurde, eine Stunde lang zu lächeln.

Nichts ohne Leib also. So füttert man diesen mit Produkten aus diversem "Action Cooking" oder mit Obst, das eben noch gefilmt und hübsch zu fließenden Farben verfremdet worden ist ("Sur la table"). Man lässt ihn im "Sensory Circus", dem neuen Erlebnispark der legendären Linzer Gruppe "Time's Up", erschüttern: ein Spiegelkabinett für den Gleichgewichtssinn, mit schwankenden, Koordinatensysteme speienden Böden, mit Schaukeln und, auch die Hüften kommen dran, Elvis-Karaoke. Im O. K Centrum erinnert die "1000 Deathclock in Paris" an die zeitliche Begrenztheit des Leibes: ein simpler Countdown, der wirkt. Im Ars Electronica Quarter spielt man Golf: ein weiteres Hysterie-Spiel der Stadtwerkstatt, allmählich nervt der Moderatoren-Schmäh.

Gleich daneben konnte man sich bei "Vita Pulsante" mit Ultraschall erforschen lassen. Und im Brucknerhaus ordinieren noch immer die Forscher vom Grazer Institut für Elektro- und biomedizinische Technik: Bei ihnen kann man versuchen, über Elektroden, die die Hirnströme abmessen, einen Computer-Vorgang durch Gedanken zu steuern. Ein eindringliches Erlebnis: Unter der Elektroden-Haube wird einem bewusst, was man schon wusste: dass Gedanken - im Prinzip - messbar sind.

Danach wäscht man sich - auch das eine körperliche, sinnliche Premiere - den Kopf im Waschbecken der Toiletten des Brucknerhauses und ist weiter vom Leib-Seele-Dualismus entfernt denn je. Sozusagen theoretisch bereit für die leiblichste aller Künste: den Tanz. Klaus Obermaiers "Apparition" wurde am Samstag im Posthof vorgestellt: Licht wächst um eine Tänzerin und einen Tänzer, erfüllt die Körper, fällt auf sie, zieht sie zu Boden und hebt sie wieder auf. Eine faszinierende Täusch- und Tarn-Show, mit der Pointe, dass das Licht trickreich Materie mimt, die der Schwerkraft unterworfen ist. Und die Tänzer tanzen in der Halbwelt dazwischen. Muss wiederholt werden!

Zumindest eine Zukunft des Tanzes hat man also gesehen in Linz. Da muss man sich über die - wohl weniger lichte - Zukunft der großen Welt vielleicht nicht gleich Gedanken machen. Dass nicht viel Originelles rauskommt, dass unsere Zeit die an Futurismen ärmste seit langem ist, demonstrieren die von Besuchern gewagten Prophezeiungen, die am Hauptplatz (auf Wänden) und im Brucknerhaus (auf Schirmen) zu lesen sind. Selbst den Kindern ist nicht viel eingefallen: ein Mega-Kino wollen sie, eine Skating-Bahn, einen Rastplatz für Busfahrer und - halt, was schreibt einer da? Fleischer zu werden ist sein Traum. Vernünftig so: Der "Flesh Factor" bleibt uns.

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