Erschienen am: 08.06.2002

Die Trennung der siamesischen Zwillinge Kunst und Theorie

Documenta-Flugkunst. Wenn das Stimmengewirr unerträglich wird, das die Stimmenhörerin in Eija-Liisa Ahtilas Videoarbeit peinigt, dann wird die Frau ganz schwerelos und macht sich auf durch den finnischen Luftraum. Foto Katalog


Es ist geschafft. Chefchirurg Okwui Enwezor und seine sechs Assistenten können die Instrumente beiseite legen und lächeln: Die Operation – von den Medien seit Monaten mit fiebriger Aufmerksamkeit verfolgt – ist gelungen, die siamesischen Zwillinge sind getrennt. Hie liegt Artia, da Theoria – die Wunden sind noch nicht verheilt, doch brüllen beide vor Erleichterung: Endlich sind sie einander los.

Von Samuel Herzog

Die «Documenta 11», die als weltweit wichtigste Veranstaltung für zeitgenössische Kunst gilt, hat getrennt, was sich seit den Anfängen der Moderne miteinander abgemüht hat: die bildende Kunst und die Theorie, die sich mal aus ihr entwickelt hat, die mal über ihr oder unter ihr in Schwingung war, mal für sie einstand oder auch gegen sie antrat.
Catherine David noch, die Leiterin der letzten Documenta vor fünf Jahren, hatte die Hervorbringungen der Kunst und die Anstrengungen der Theorie miteinander zu verbinden gesucht. Sie hatte Kriterien ausgearbeitet, die das Nachdenken, das sich in Bildern äussert, und die im Wort gefasste Reflektion zu parallelen Läufen antreiben sollten. Und sie hatte ein thesenhaftes Konzept entwickelt, dessen Ziel es war, Funktionen der Kunst innerhalb dieser Gesellschaft sichtbar zu machen – Verbindungen, Gelenkstellen, Berührungspunkte aufzuzeigen.
Okwui Enwezor nun hat die Kunst und die Theorie vollständig voneinander getrennt. Die Theorie hat im Verlauf des vergangenen Jahres rund um den Globus stattgefunden. Auf fünf so genannten Plattformen in Wien, Berlin, Delhi, St. Lucia und Lagos haben hochkarätige Wissenschaftler aus aller Welt debattiert über «Experimente mit der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung», «Demokratie als unvollendeter Prozess», «Créolité und Kreolisierung» sowie «Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte, Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos». In den kommenden Monaten werden vier Publikationen erscheinen, die diese Debatten dokumentieren. – Nun könnte man sich ja vorstellen, dass dieser theoretische Prozess in eine Art Konzept oder These hätte münden müssen. Aus dieser Grundlage hätten Kriterien für die fünfte Plattform, die Ausstellung in Kasel entwickelt werden können. Doch genau das ist nicht der Fall: Es gibt weder Konzept oder These noch Kriterien.

Die Brille

Die Ausstellung wolle nicht prognostisch sein, sagte Okwui Enwezor an der Pressekonferenz vom vergangenen Donnerstag, die in der Stadthalle vor mehreren tausend Presseleuten abgehalten wurde. Angesichts der zeitlichen Spanne der Documenta könne sie nur diagnostisch sein. Kunst müsse als eine Form der Wissensproduktion verstanden werden, erklärte Sarat Maharaj, einer der sechs Co-Kuratoren: Es gehe darum, das Verbindende zwischen dem Visuellen, dem «Retinalen» und dem Intellektuellen zu suchen. Was die Kunst tue, das lasse sich nicht immer verbalisieren – es geht da um «the alien of thought». Schnitt.
Es liesse sich nämlich ewig darüber rätseln, worum es bei dieser Ausstellung gehen könnte. Natürlich gibt es ein Thema, das, wenn auch durchaus unverbindlich, über dem Ganzen schwebt: Globalisierung, Postkonolialismus, Migration etc. bieten sich als Brille an, die man sich für den Kunstgang aufsetzen kann. Durch diesen Filter sieht man zum Beispiel die Arbeit von Yona Friedman (1923) aus Budapest, der in kleinen Zeichnungen und mit Hilfe von futuristischen Modellen der Frage nachgeht, wie sich städtische Architektur durch die zunehmende Migration verändern könnte.

Die Telefonzelle

Mit einigem Humor kreist auch Dominique Gonzales-Foerster (1965) im Park der Karls-Aue um das Globalisierungsmotiv. Sie hat aus allen Teilen dieser Welt Souvenirs nach Kassel gebracht und zu einer neuen Szenerie zusammengestellt: Eine Telefonzelle aus Brasilien, eine Strassenlampe aus Florida, ein Stück Sandstrand, ein Rosenbusch aus Indien etc. entfalten da im Kasseler Regen ihre wärmende Erzählkraft. Durch das Globalisierungs-Monokel kann man auch jene Arbeiten betrachten, die von Künstlern aus der so genannt nichtwestlichen Welt, vor allem aus Afrika geschaffen wurden. Wie zu erwarten war, sind diese Positionen im vergleich zur letzten «Documenta» recht zahlreich – es finden sich jedoch kaum Künstler darunter, die in Europa nicht schon mehrfach auch in grossen Institutionen zu entdecken waren.

Der Einbaum

Der obsessive Zeichner und Schreiber Frédéric Bruly Bouabré (1921) aus Abidjan etwa gehörte vor fünfzehn Jahren bereits zum Team von Jean-Hubert Martins «Magiciens de la terre». Georges Adebago war schon an der vorletzten Biennale von Venedig und hernach unter anderem auch in Fribourg zu sehen: Er hat allerlei Trouvaillen und Malereien zu Themen wie «Africanness» und zum Verhältnis zwischen afrikanischen Künstlern und dem westlichen Ausstellungsbetrieb rund um einen lottrigen Einbaum drapiert.
Pascale Marthine Tayou war kürzlich auch in der Kunsthalle Bern zu sehen: Damals zeigte er in einem nachgebauten afrikanischen Dorf allerlei Videobilder aus seiner Heimat Jaunde. In Kassel nun bringt er die Monitore mit ähnlichen Aufzeichnungen aus dem afrikanischen Alltag in einem nach Tannenholz riechenden Chalet unter – ein gekonnt misslungener Versuch, über kulturelle Versatzstücke so etwas wie eine Annäherung zu inszenieren. Auch Meschac Gaba (1961) aus dem Benin war mit seinem «Museum of Contemporary African Art» schon in den verschiedensten Institutionen Europas anzutreffen.
Die Prozesse im globalisierten Kapitalismus sind ebenfalls Thema einiger Arbeiten. So dokumentiert etwa Allan Sekula (1951) aus Los Angeles mit seiner «Fish Story» den Alltag des ozeanischen Proletariats in sämtlichen Facetten. Und Maria Eichhorn hat eine nach ihre benannte Aktiengesellschaft gegründet, in deren Aufsichtsrat Okwui Enwezor den Vorsitz führt. Ziel dieser Gesellschaft ist es, eine bestimmte Summe Geldes über einen Zeitraum zu erhalten – ohne dieses Kapital aber irgendwie zu investieren oder zirkulieren zu lassen.

Die Abfälle

So sehr das Thema weltweiter Entwicklungen und ihrer Verflechtungen im postkolonialen Zeitalter in dieser Ausstellung auch präsent ist – sie sind es nicht mehr als in jeder anderen Schau mit zeitgenössischer Kunst auch. Und wer die Kasseler Plattform nur durch das Globalisierungs-Fernrohr betrachtet, der verpasst den grössten Teil. Die versonnenen Bilder schwimmender Abfälle etwa, die Igor und Svetlana Kopystiansky mit der Videokamera eingefangen haben. Oder die poetische Parabel, mit der Isaac Julien in mehrfacher Videoprojektion den Bedingungen seiner eigenen Existenz kinematografisch auf der Spur ist. Auch die Fotos von William Eggleston, das fiktive Palästina-Archiv von Walid Ra’ad, die Stuhl-Skulpturen von Doris Salcedo, das Grusel-Märchen von Stan Douglas oder die wunderbare Installation «Homebound» von Mona Hatoum lassen sich mit dem Globalisierungs-Stetoskop kaum wahrnehmen.
Und so werden wir denn den Verdacht nicht los, dass die strikte Trennung zwischen Theorie und Kunst, die Okwui Enwezor mit dieser elften «Documenta» vorgenommen hat, weniger das Ergebnis von Überzeugung ist denn das Resultat einer sehr genau kalkulierten Strategie: Diese Trennung nämlich hat es dem Kurator möglich gemacht, die widerborstige Ausstellung nicht zu machen, die man weltweit von ihm erwartet hat. Das Widerborstige hat vielleicht auf den vier vorgeschobenen Plattformen stattgefunden – wirklich über den Globus folgen konnte dem allerdings niemand. Die Ausstellung hingegen fügt sich stromlinienförmig in das ein, was heute im westlichen Kunstbetrieb üblich ist. Sie zeigt wenig Überraschendes und kaum Neues – auch sind sich die Künstler allesamt treu geblieben, hat keiner unter dem «Documenta»-Druck irgendwelche Purzelbäume aus seinem sonstigen Werk heraus geschlagen.

Die Brauerei

Eine richtig schöne Kunstausstellung mit vielen ausgezeichneten Arbeiten ist sie geworden, diese elfte «Documenta»: Sie eckt nicht an und regt nicht auf, sondern repräsentiert und bietet den einzelnen Werken viel Raum und Ruhe, sich zu entfalten. Besonders schön ist die Inszenierung in der neu für die Kunst erschlossenen Binding-Brauerei (Kassels Arsenale sozusagen), die das Raumangebot für die «Documenta» gegenüber früheren Jahren fast verdoppelt. Auch im Fridericianum und im Kulturbahnhof ist alles elegant und munter zugleich in Szene gesetzt. Nur die «documenta»-Halle, wo die meisten konzeptuellen Arbeiten untergebracht sind, wirkt etwas verschusselt.
Sinnlich ist sie auch, diese elfte «Documenta» – die Trockenheit, die man Catherine David vorwarf, wird man Okwui Enwezor nicht anlasten können. Und doch bleibt die Frage offen, warum es für eine Ausstellung ohne Konzept oder These ein derartiges intellektuelles Fat-Burning braucht, wie es Okwui Enwezor im Vorfeld inszeniert hat. «Der Kurator ist eine überflüssige Notwendigkeit», steht in der Installation von Artur Barrio an der Wand zu lesen. Vielleicht hat er Recht. Vielleicht wird die «Documenta 11» auch als die Veranstaltung in die Geschichte eingehen, die endlich eine Lösung für die widersprüchlichen Erwartungen an dieses Mega-Event geboten hat: Mit den vier ersten Plattformen hat sich Okwui Enwezor den Begehrlichkeiten der Kunstwelt entzogen und mit der langen Geheimniskrämerei um die Künstlerliste auch den Markt vor den Kopf gestossen – mit der fünften Plattform nun aber hat er alle wieder versöhnt. Das System Enwezor – wenn es nicht in die Geschichte der Kunst eingeht, dann ja vielleicht in die Annalen des Kapitalismus. Samuel Herzog




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