Puppenköpfe
umstülpen und ihr Plastikinnerstes nach außen kehren. Zauberbilder mit
dem Bleistift so ausmalen, dass vom verborgenen Ganzen bloß winzige
Details freigelegt werden. Zimmerpflanzen mit Fragmenten von Pop-Lyrics
beschriften. Eine Wohnhausanlage 24 Stunden mit der Kamera überwachen,
registrieren, wie deren Bewohner nach Hause kommen und aus den Bildern
der erhellten Fenster einen Index sozialer und architektonischer
Struktur erstellen. Architektur so fotografieren, dass sich der Blick
des Betrachters in den Fluchtachsen der Räume verfängt. Wollfäden und
Drähte als Pendel zwischen Boden und Decke so verspannen, dass die
Zwischenräume körperlich spürbar werden und sich der Betrachter
dazwischen einen Weg bahnen muss. Daran wachsgeformte
Architekturmodelle festhaken. Oder wächserne Körper als Ganzes so lange
in die Länge ziehen, bis sie nur noch Schlingen und Schlaufen sind, in
denen sich ihrerseits Spuren der Realität ablagern: federleichte
Pingpongbälle etwa, eine Bluse, hauchdünne Plastiksackerln, ein kleiner
Kaugummi, eine Trillerpfeife, ein Schlüsselbund.
Ansätze wie
diese verfolgt Anne Schneider in ihren Skulpturen, Fotoserien, Videos
und Aquarellen seit bald 15 Jahren. Das Flüchtige, Verletzliche,
Fragile war dabei immer charakteristisch. Eine große Rolle spielt das
Unbewusste, das eigene wie auch das kollektive, und die Spuren, die es
in der Realität hinterlässt: „Abdrücke“ nennt Anne Schneider diese
Spuren und lässt damit anklingen, dass ihre Art, Kunst zu machen, viel
mit plastisch-räumlichem Denken und mit dem Körperhaften zu tun hat.
„Es passiert in der materiellen Welt nichts ohne den Körper“, sagt sie,
schränkt aber ein: „Ich bin eigentlich nicht am menschlichen Körper
interessiert, sondern an dem Teil, der ihn mit der Außenwelt verbindet,
an seinen Emotionen, seinen Gesten und Stimmungen. Der menschliche
Körper spielt dabei insofern eine Rolle, als die Grenze zwischen dem
Selbst und der Welt durch den Körper verläuft.“
Als Künstlerin hat
Schneider den Part übernommen, entlang dieser Körpergrenze das wieder
sichtbar zu machen, was in unserer Kultur verschüttet und verloren
gegangen ist. „So gesehen“, sagt sie augenzwinkernd, „ist das, was ich
tue, eine Art von ,cultural studies‘. Ich lasse in meiner Arbeit
unzensuriert Dinge aufsteigen, die sich ablagern.“
Den Körper spüren.
Dass im Dialog mit der Skulptur auch der eigene Körper vehement zum
Einsatz kommt, nimmt da nicht wunder. Er ist bei ihr immer zugleich
Stellvertreter des Selbst wie auch Ausführender. „Ich muss den Körper
spüren“, sagt sie. „Ich mag es auch, dreckig zu sein und etwas nach
außen zu bringen. Das Weibliche ist eh immer so clean.“ In einem ihrer
Kurzvideos thematisiert Schneider diesen Zusammenhang: Bei der Biennale
Melbourne 1998 präsentierte sie einen Arbeitsbericht aus dem Studio mit
dem unmissverständlichen Titel „Anne Schneider“. „Das Video zeichnet
nüchtern einen skulpturalen Formgebungsprozess auf“, sagt sie. „Dabei
werden Puppenköpfe ergriffen, mit dem Fuß fixiert und unter sichtbarer
Kraftanstrengung gestülpt, bis die innengelegene Negativform der
menschlichen Physiognomie als plastisches Porträt nach außen getreten
ist.“
Im Wachs daheim. Und noch deutlicher wird
dieser Zusammenhang bei ihren neuen Wachsarbeiten – angedeuteten
Porträtköpfen, teils lebensgroß, teil von puppenhaftem Format, die sie
zu zweit oder zu dritt miteinander in eine dialoghafte Beziehung setzt.
Schicht um Schicht aus schwarzem Industriewachs aufgebaut, können sie
mit den Händen nur so lange geformt werden, wie das Wachs warm und
weich ist. An der Vorderseite sind mit den Fingern rudimentäre
Gesichtszüge eingedrückt, die Hinterköpfe bleiben hingegen abstrakt:
„Diese Wachsarbeiten haben eine große Flüchtigkeit, aber auch eine
große Intimität“, sagt Schneider. „Da fühl’ ich mich voll daheim, weil
mit dem Körper ein Körper erzeugt wird.“ Auch in der Endfertigung
behandelt sie sie wie schutzbedürftige Körper, wickelt ihnen einen
Wollschal um, behängt sie mit
einer Halskette oder steckt sie in ein T-Shirt.
In
der Disparatheit der Materialien weisen die Köpfe letztlich über sich
selbst hinaus. Denn es geht hier weniger darum, dem
traditionsbehafteten Skulpturenbegriff eine neue Facette abzuringen,
sondern vielmehr um eine Atmosphäre und das Zusammenspiel der einzelnen
Objekte. Womit sich auch wieder der Kreis zum Raum schließt. Schneider:
„Wenn sich zwei Skulpturen anblicken, dann entsteht dazwischen ein
Raum, den man physisch und psychisch wahrnehmen oder erahnen kann. Was
bedeutet Raum? Im Grunde das Vorhandensein von Existenz. Diesem Raum
und der Geschichte, die darin mitschwingt, gilt mein Hauptinteresse. So
gesehen ist meine Arbeit Puppenspielen auf hohem Niveau.“