Salzburger Nachrichten am 11. Juni 2002 - Bereich: kultur
Sehen, beobachten, denken

August Sanders Menschenbilder im Rupertinum

Über einen Zeitraum von 30 Jahren hat August Sander mit Hilfe vergleichender Fotografien gesellschaftliche Entwicklungen seiner Zeit für nachfolgende Generationen zu bewahren gesucht. Er entwickelte Mitte der zwanziger Jahre eine Typenlehre, bei der es um ein künstlerisches Anschauungsmodell universellen Charakters ging.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1964 hinterließ Sander ein Konvolut von rund 1800 Negativen. Publiziert hat er sein Werk in Mappen und Bildbänden. In vielen Ausstellungen haben die Porträts von Menschen unterschiedlicher sozialer Stellungen Aufsehen erregt. In der NS-Zeit wurden die "pessimistische Sicht" und das Fehlen "aufbauender Kraft" beanstandet. Dieses Bild der deutschen Gesellschaft entsprach nicht den geforderten idealtypischen Vorstellungen. Deshalb wurde die Verbreitung des Buches verboten. Trotzdem setzte Sander die Arbeit unverdrossen fort.

Aus der Distanz betrachtet fällt auf, dass Sanders Grundsatz, "die Betroffenen unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer eigenen Psychologie wiederzugeben", nur bedingt Geltung hat. Einflüsse aus der Porträtmalerei sind in wiederkehrenden Posen und Arrangements zu beobachten. Die durchschnittliche Belichtungszeit von zwei bis acht Sekunden führte zu erstarrten Haltungen, die Sander dazu nutzte, das Selbstverständnis der Abgebildeten zu stilisieren. Der Eindruck entsteht, dass sich die Personen so präsentieren, wie sie sein sollen. Sie scheinen einem vorgeprägten Rollenbild zu entsprechen. Der selbstbewusste Künstler, der entschlossene Revolutionär, die elegante Dame der Gesellschaft, die mütterliche Frau: Sie alle scheinen nach Anweisungen zu posieren, bei denen Sander Regie führt.

In diesem Sinn sind Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts ein geistesgeschichtlich interessanter Beitrag zur subjektiven Konstruktion eines Weltbilds. Sander hat seine Zeit demnach als eine Epoche gesehen, in der sich im Nebeneinander disparater Wertvorstellungen Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart streitig machen. (Bis 21. Juli)

WOLFGANG RICHTER