Im Fleischwolf der Kulturindustrie

Peter Gorsen


"Wiener Zeitung": Herr Professor Gorsen, wie würden Sie den Begriff "Art Brut" definieren?

Peter Gorsen: Es ist eine Katastrophe mit diesem Begriff, weil er ganz unklar ist. Am Kunstmarkt ist Art Brut eine Trademark oder ein Logo. Das meiste, das heute unter diesem Begriff verstanden und gehandelt wird, ist aber gar nicht Art Brut. Es gibt sogar Theoretiker, die sagen, Art Brut sei eine Erfindung und Fiktion der Kunsthistoriker. Wir müssen sehen, dass der Art-Brut-Begriff eine lange Tradition hat, die nicht erst bei Dubuffet beginnt. Den Anfang machte Cesare Lombroso, der sich mit der Kunst seiner psychotischen Patienten befasste, bald nach ihm kamen Marcel Réjà und der wesentlich bekanntere Hans Prinzhorn. Dubuffets Art-Brut-Begriff ist erst 1949 entstanden, nachdem er diese Kunst sammelte und den berühmten Essay "Art brut préféré aux arts culturels" verfasste.

Kann man heute noch von Art Brut im Dubuffet´schen Sinne sprechen?

Schröder-Sonnenstern: Die mondmoralische Eifersuchtstragödie, 1956 (Schirn Kunsthalle, Frankfurt, bis 9. 1. 2011). Foto: Slg. Brockstedt, Hamburg

Schröder-Sonnenstern: Die mondmoralische Eifersuchtstragödie, 1956 (Schirn Kunsthalle, Frankfurt, bis 9. 1. 2011). Foto: Slg. Brockstedt, Hamburg Schröder-Sonnenstern: Die mondmoralische Eifersuchtstragödie, 1956 (Schirn Kunsthalle, Frankfurt, bis 9. 1. 2011). Foto: Slg. Brockstedt, Hamburg

Ja und nein, denn hier kommt es auf den Betrachterstandpunkt an. Dazu muss man erst einmal wissen, welcher Sinn überhaupt gemeint ist. Dubuffet ist ja im Laufe der Zeit von seiner Radikalität abgerückt. 1949 beschrieb er die Art Brut folgendermaßen: "Wir verstehen darunter Werke von Personen, die unberührt von der kulturellen Kunst geblieben sind, wo Anpassung und Nachahmung - anders als bei den intellektuellen Künstlern ( Berufskünstlern, Anm. ) - kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Eine Kunst also, in der nur die eigene Erfindung in Erscheinung tritt, und die nichts von einem Chamäleon oder einem Affen an sich hat, wie das bei der kulturellen Kunst konstante Praxis ist."

Dubuffets Schreiben war nichts anderes als eine Polemik, die mit einem künstlichen Naturbegriff argumentiert. Natur und Kunst werden getrennt, was schon eine ungeheuerliche Abstraktion ist, denn das gibt es eigentlich nicht. Und es wurde auch bereits von Dubuffet eingesehen, dass dieser Begriff so nicht haltbar ist.

Die globale Bebilderung der Kunst ging auch an der Art Brut nicht spurlos vorüber. So schrieb Dubuffet kurz vor seinem Tod 1986 die erstaunliche Bemerkung nieder: "Die Werke der Art Brut sind nie total, sondern nur mehr oder weniger unberührt von Bezügen zur kulturellen Kunst." Das ist ein klares Abgehen von der ursprünglichen Position. Insofern ist Art Brut nach der frühen Definition wirklich etwas sehr Seltenes, aber die Zwischenstufen sind ja mittlerweile das Normale.

Peter Gorsen. Foto: Weidinger

Peter Gorsen. Foto: Weidinger Peter Gorsen. Foto: Weidinger

Warum wollten Leute wie Dubuffet eine rohe und unberührte Form der Kunst - eine Art "Naturkunst" - finden?

Mit Hilfe der Naturkunst machte man einen Ausbruchsversuch aus der traditionellen und als verbraucht erlebten Kunstgeschichte. Deshalb haben sich auch manche Künstler so verhalten, als wären sie selbst "Artbrutler". Man kann auch täuschen! Die Naturkunst verhilft uns dazu, die Differenz zwischen Natur und Kunst - oder wenn Sie so wollen - zwischen zwei Künsten zu denken. Der Begriff wird 1980 vom Dubuffet-Schüler Michel Thévoz zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt mit "Kunst jenseits der Kunst".

Also ist Art Brut wirklich nur eine Fiktion der Kunsthistoriker?

Mit Bourdieu könnte man es so sagen. Er bezeichnete die Art Brut als "einen von der Kulturtheorie produzierten geschichtlichen Begriff". Die Kunsthistoriker nehmen zwar eine reine Kunst an, aber diese entsteht ja nur durch die Differenzierung in eine reine und in eine unreine Kunst. Diese "Reinheitshülle", dieses l´art pour l´art , lag damals in der Luft. Man wollte gegenüber einer bankrotten, nach dem Weltkrieg inflationär gewordenen Kunst einen Neuanfang finden. Eine radikale Trennung in zwei Künste wäre in der Realität kaum durchzuziehen, was sich auch darin zeigt, dass die sogenannte Art Brut meistens von Kulturtechniken durchdrungen ist.

Auch wenn es sich bei der Art Brut um eine Art Utopie handelt, ist es eine Realität, dass sie am Kunstmarkt schon seit einigen Jahren einen großen Boom erlebt. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

In den 60er Jahren haben weite Teile der kritischen Intelligenz in der Art Brut eine verwandte Deformation und Welterfahrung zu dem gesehen, was sie selbst erlebten. Es handelte sich um eine Art Projektion. Heute glaube ich, dass man in der Art Brut eine neue Avantgarde sucht oder aber es steckt wieder eine Projektion dahinter. In unserer New-Age-Gesellschaft, in der irrationale Bewegungen wie Okkultismus oder Spiritismus großen Zulauf finden, ist ein neuer Naturbegriff modern geworden. Hier stützt man sich gerne auf eine Kunst, die ebenso nicht zur Institutionalisierung drängt. Dem technologischen Fortschritt, der rationalen Anpassung und der Entmythologisierung wird etwas entgegengesetzt, das man nicht rational beherrschen kann. Die New-Age-Gesellschaft hat die Tendenz, die Natur gegen die Kunst neu auszuspielen. Diese Utopie einer "Kunst jenseits der Kunst" war aber schon immer in der Kunstgeschichte selbst vorhanden, etwa in den Paradiesen des Expressionismus - das sind Versuche, realitätsflüchtig zu werden und gegen die Aufklärung zu sein.

Wie sieht es mit dem subversiven Potential der Art Brut aus - gibt es das heute überhaupt noch?

Subversivität war von Dubuffet als Widerstand gegen Institutionalisierung gedacht und als Lob des Institutionswidrigen. Man sieht diese Kunst, wenn man vom Produktionsprozess ausgeht, auch als reflexionslos und nicht zweckgerichtet. Dem idealen Art-Brut-Künstler geht es immer um das Machen; hat er ein Werk fertig gestellt, interessiert es ihn nicht mehr.

Im Laufe der Zeit hat sich das alles geändert. Und die Art-Brut-Kunst wurde infiziert von Vorstellungen der institutionalisierten Kunst und der entsprechenden Kulturtheorie. Die Postmoderne hat alle Unterschiede eingeebnet, sodass die Werke der Art Brut zusammen mit jenen der Art Culturel in großen Publikumsausstellungen inszeniert werden. Das hat natürlich einerseits eine positive, demokratisierende Wirkung, denn die Postmoderne möchte alle normativen Unterschiede zwischen den Kunstformen abbauen. Andererseits ist es der Preis dieser Entwicklung, auf die Subversion verzichten zu müssen. Integration und Subversion - beides zugleich geht nicht! In Wirklichkeit geht diese Nivellierung auch zu Schaden der Komplexität der Materie.

Das Anderssein wird durch die ästhetische Gleichsetzung ausradiert. Das merkt man auch, wenn man sich ansieht, wie Art Brut heute aufgearbeitet wird. Die Biographien der Künstler werden geglättet und ihrer Triebquelle beraubt. Eine derartige Form der Ästhetisierung negiert die Tatsache, dass ein Kunstwerk in seinem Ursprung auch durch den Zustand des Kranken mit beeinflusst wurde, obwohl immer noch Talent dazu gehört - die Psychose alleine ist nicht schöpferisch!

Sie stehen der strikten Trennung von Kunst und Krankheit also eher negativ gegenüber?

Die Entmedikalisierung der Künstler ist auch nicht das Wahre. Das Ganze geht natürlich auf den katastrophalen Umgang der Nazis mit der Thematik zurück, aber diese Zeit ist vorbei. Wir betreiben hier ja keine Fortsetzung dieser unsäglichen Verquickung von Kunst und Krankheit. Was bei kulturellen Künstlern ganz selbstverständlich ist, wird bei Artbrutlern oft unterschlagen: die psychische Biographie. Bei Munch ist es zum Beispiel ganz klar, dass man seine Lebensgeschichte kennt. Krankheit ist nichts Diskriminierendes für mich, im Gegenteil, Krankheit ist ein elementares Moment, das in der Art Brut eine Rolle spielt.

Häufig bekommt man den Eindruck, dass im aktuellen Kunstbetrieb trotz des Verzichts auf biographische Daten mit der Subversivität der Künstlerpersönlichkeiten geworben wird . . .

Man muss sich die Rezipienten, die so angesprochen werden sollen, genau ansehen, ob sie davon bestimmt sind, ein "avantgardistisches Kunstprodukt" haben zu wollen, oder ob sie so ehrlich sind, das subversive Element darin zu sehen. Dann müssten sie sich auch für ganz anonyme, unbekannte Künstler, Produkte von Patienten in den heutigen Anstalten interessieren. Aber ich habe den Eindruck, dass man doch nach Namen sucht, die aufgewertet wurden.

Müsste man Art Brut im frühen Dubuffet´schen Sinne heute nicht an neuen Orten suchen? Im aktuellen Kunstbetrieb entsteht oft der Eindruck, dass diese eher gezüchtet als gefunden wird.

Ja, es geht immer um das Finden und nicht das Suchen! Solche Talente boten sich ursprünglich von selbst dar, oder sie kamen plötzlich in Kliniken oder Gefängnissen zum Vorschein. Züchten kann man so etwas auch, aber das ist dann Verrat an der Art Brut. Und in dem Fall haben die Kunstpädagogen mehr von dem Dialog mit den Geisteskranken als umgekehrt, denn diese werden nur noch vereinnahmt.

Gugging wünscht sich seit längerem ein eigenes wissenschaftliches Institut für Art Brut. Was halten Sie von einer derartigen Einrichtung?

Das kann ich mir sehr gut vorstellen, nur unabhängig müsste es sein. Und warum in Gugging? Ein Institut müsste universitär verankert sein. Ich fürchte nämlich, dass man ansonsten ganz im Interesse der Gugginger arbeiten würde. Ein Institut für Art Brut wäre außerdem historisch zu eng gefasst. Warum nur Art Brut? Man sollte vielleicht besser sagen: ein Institut zur Erforschung von Kunst und Psyche seit dem 19. Jahrhundert. Man müsste es so weit fassen, dass auch die Künstler hineinfallen, die mit den Artbrutlern gearbeitet haben bzw. von ihnen beeinflusst wurden - das bekannteste Beispiel ist Arnulf Rainer, aber es gibt noch ganz viele andere.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass ich dazu ebenso einiges zu sagen hätte, ich publiziere und kommuniziere ja seit 1966 ausgiebig zu diesem Thema. Und ich bin natürlich sehr entsetzt darüber, durch welchen Fleischwolf der Kulturindustrie die Art Brut heute gedreht wird, und wem dann schöne Fleischbällchen daraus gemacht werden.

Zur Person

Peter Gorsen, geboren 1933 in Danzig, studierte Philosophie, Psychologie und Kunstwissenschaft an der Universität Frankfurt und promovierte 1965 bei Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. Von 1977 bis zu seiner Emeritierung 2002 war er Professor für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Seit 1980 arbeitete er interdisziplinär zum Themenkomplex Kunstund Krankheit. Bis heute erforscht er auch die Schattenseiten des "Siegeszuges der Psychose im Museum".

Vor kurzem wurde Peter Gorsen in München mit der Hans Prinzhorn-Medaille der DGPA (Deutschsprachige Gesellschaft für die Psychopathologie künstlerischer Ausdrucksformen) geehrt. Seine jüngste Publikation: "Das Nachleben des Wiener Aktionismus", Ritter Verlag, 2009. Zurzeit arbeitet er an einer Monographie über Friedrich Schröder-Sonnenstern.

Art Brut

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen Psychiater wie Cesare Lombroso die schöpferischen Werke ihrer psychisch kranken Patienten zu analysieren. Seit Hans Prinzhorns Buch "Die Bildnerei der Geisteskranken" (1922) wurde diese Kunst auch für Kunsthistoriker und Künstler interessant. In den 1940er Jahren versuchte dann Jean Dubuffet, die Kunst gesellschaftlicher Außenseiter als "Art Brut" zu etablieren. Der Krankheitsaspekt wurde ausgeklammert. Art Brut, die die Kunstwelt ursprünglich durch ihr Widerstands- und Verweigerungspotential aufrütteln sollte, hängt mittlerweile in Galerien und Kunstausstellungen.

Dagmar Weidinger, geboren 1980, ist Kunsthistorikerin, Lektorin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien und Journalistin.




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