diepresse.com
zurück | drucken

27.10.2005 - Kultur&Medien / Viennale-Special
Viennale-Bilanz: Good Night, and Good Luck
VON CHRISTOPH HUBER
Wiens Filmfest leistet sich erfreulicherweise eine Position. Es könnte sich ein wenig mehr leisten.

Die Idee, dass ein Filmfestival das Weltkino abbilden kann, ist so verlockend wie absurd: Die Illusion eines umfassenden Überblicks ist reizvoll, aber niemand kann auch nur annähernd alle Filme eines Jahrgangs sehen, viele sind aufgrund der Funktionsweise des kommerziellen Markts wie des Filmfestival-Betriebs zur Unsichtbarkeit verurteilt - vielleicht dreht in Nigeria gerade ein Regisseur im Zuge des dortigen Video-Booms ein Meisterwerk, das nie über die VHS-Recorder seines Landes hinausgelangen wird.

Was Filmfestivals aber leisten können und sollen, ist ein vielfältiges Abbild des sichtbaren Weltkinos. Die Basis für Festivals in der Größenordnung der Viennale ist eine Auswahl von Filmen der großen Premieren-Festspiele wie Cannes oder Venedig. Entgegen dem weitläufigen, auch in "kulturpolitischen" Debatten gern propagierten Vorurteil ist es ein Vorteil, nicht unter Premieren-Druck zu stehen, weil oft Novität vor Qualität geht und ästhetischer Kollateralschaden durch zusätzlich aufgezwungene Filme entsteht - auf Großfestivals stark bemerkbar.

Die Viennale aber kann es sich leisten, in der Auswahl vorrangig Position zu beziehen - das machen nicht viele vergleichbare Filmfestivals, und sie werden weniger. In Buenos Aires und Thessaloniki wurde im Vorjahr die Direktion demontiert. So war es auch eine der schönsten Gesten der heurigen Viennale, dass Quintin, geschasster Leiter von Buenos Aires, als Kurator eingeladen wurde: Das Programm "Buenos Aires Dreams Itself" zeigte, unabhängig von der Qualität einzelner Filme, auch Kernstärken der Viennale - historisches Bewusstsein und reflexiven Umgang mit dem Angebot.

Gerade, dass Direktor Hans Hurch traditionsgemäß auf große historische Programme setzt, ist unschätzbar. Zur Andy-Warhol-Retrospektive demonstrierten die lohnenden Tributes an Shanghais Stummfilm-Diva Ruan Lingyu oder den gegenwärtigen portugiesischen Einzelgänger Pedro Costa eine erfreuliche Erweiterung des Blickfelds.

Entlang historischer Linien wird oft auch die wahre Bedeutung aktueller Filme augenfällig. Im "ORF-3"-Programm konnte man ein Staatsfernsehen wieder entdecken, das - wie es in George Clooneys feinem Abschlussfilm Good Night, and Good Luck heißt - mehr war als bloß "wires and light in a box". Das zweite Filmarchiv-Austria-Programm zum "Proletarischen Kino" war ein unbedingter Höhepunkt: Nicht nur in der Wiederentdeckung etwa von Ilja Traubergs Stummfilm-Großtat Der blaue Express, sondern auch wegen der Spur, die zu einigen der wichtigsten neuen Filme gelegt wurde - Berichte vom gegenwärtigen Verschwinden des Proletariats und seiner Utopien in Michael Glawoggers Workingman's Death oder Travis Wilkersons Who Killed Cock Robin?, einer wahren Entdeckung dieser Viennale. In Schmerz, Arte-povera-Ästhetik und spiritueller Kraft war Wilkersons bittere Video-Studie auch idealer Partnerfilm zum Monument des Festivals, der elfstündigen Chronik The Evolution of a Filipino Family von Lav Diaz. Dessen Präsentation demonstriert das Selbstbewusstsein der Viennale wie auch eine wachsende Offenheit in gewissen Bereichen (Diaz' letztes Meisterwerk Batang West Side hatte noch im Filmmuseum Premiere): Die Auswahl aus den großen Wettbewerben ist vernünftig, Außenzonen werden genauer berücksichtigt - etwa mit Cristi Puius Meisterwerk Der Tod des Herrn Lazarescu oder Le petit lieutenant, dem schönen Polizeifilm von Xavier Beauvois. (Es half wohl, dass beide erfreulicherweise hierzulande auch verliehen werden.)

Wiens Publikum kann sich also glücklich schätzen über sein Filmfestival, das gilt noch stärker umgekehrt: Das Fest ist schon seit der vorigen Direktion ein Zuseherzahlen-Selbstläufer, am neuen Besucherrekord ist auch Schwierig-Faszinierendes etwa von Aoyama Shinji oder Suwa Nobuhiro beteiligt. Die unübersehbare Schwäche der Viennale - neben der wechselhaften Kurzfilm-Auswahl - nimmt das Publikum gelassen hin: Gutes Genre-Kino ist unterrepräsentiert, oft auf Kosten mittelprächtiger Kunst.

Etwa Hollywoods low comedies, deren beste Vertreter hierzulande oft nicht ins Kino gelangen, hätten einen idealen Präsentationsplatz - gerade weil sie meist mehr über die Gesellschaft erzählen als die stark präsenten, typisierten US-Independent-Filme. Oder Asiens Genrekunst - in der kargen Auswahl war mit dem Thai-Horror Shutter wieder nur ein einziger, enttäuschend epigonaler Vertreter zu finden. Es mag zwar unmöglich sein, ein vollständiges Abbild des Weltkinos zu liefern, aber Wiens treues Publikum hätte sich auch ein wenig mehr intelligente Unterhaltung verdient.

© diepresse.com | Wien