Sequenz aus der Installation "I am not me, the horse is not mine": William Kentridge zieht die rote Fahne hoch, um sie endgültig einzumotten.
Wien - Wenn es niemand gewesen sein soll - dann war es freilich die Nase. Dimitri Schostakowitschs Oper (1928) nach der gleichnamigen Erzählung Gogols gehört zu den raren Zeugnissen einer epochalen Selbstermächtigung. Stelle dir vor, deine Nase kündigt dir die Gefolgschaft auf! Sie macht sich ungebeten aus dem Staub, foppt dich noch durch ihre schiere Abwesenheit: Sie überliefert dich der fruchtlosen Auseinandersetzung mit unverständigen Behörden - und kehrt erst dann in dein Gesicht zurück, wenn du es am wenigsten von ihr erwartet hast.
Die Wiener Albertina-Schau des großen Südafrikaners William Kentridge erzählt im vielleicht zentralen Abschnitt der multimedialen Installation Fünf Themen von den großen, den infernalischen Selbstzerstörungskräften der Ideologie: von jenen Schöpfungsmächten, die ihre eigenen, ihre besten Antriebe gegen jedes Prinzip der Urheberschaft verkehren. Der Zeichner Kentridge, furios darin geübt, die ganz allmählichen Fortschritte seiner Atelierarbeit in vielen Zwischenstufen auf Papier zu dokumentieren, nimmt es auf zahlreichen Schauplätzen zugleich mit der historischen Sowjetmacht auf.
Tatsächlich ist der Künstler (Kentridge, an seiner statt aber jeder denkbare) der einzig berufene Polyhistor jener Möglichkeiten, die der Stalinismus - als der wahre Liquidator von Futuristen und Konsorten - erbarmungslos unter sich begrub.
Schnüffelei und Terror
Kentridge, der Die Nase tatsächlich allerjüngst in der New Yorker Met inszeniert und ausgestattet hat, erzählt also nicht die "Oper", deren unüberhörbare Kritik an den Auswüchsen von Bürokratie und Gesinnungsschnüffelei zur schrittweisen Verfemung des größten Tondichters in der jungen sozialistischen Weltmacht führten. Schostakowitsch überlebte den Terror der Stalin'schen Schauprozesse 1937/38, indem er während langer Nächte neben seinem fertig gepackten Kulturbeutel auf das Erscheinen der Geheimpolizisten wartete.
Die Zerstückelung des Körpers, an deren Ende das unverhoffte Freiwerden der "Nase" steht, gehört zugleich zu den frömmsten Übungen einer auf das totale Ganze zielenden Kulturpraxis: Für das Fehlen einzelner Teile steht die klein mahlende Mühle der "großen" revolutionären Erzählung im Einzelfall ein.
In Kentridges Animationsfilmen setzt sich nicht nur die Nase auf das hohe Ross: buchstäblich, indem eine traurige Rosinante in "Stop-Motion-Technik" furchtbar altertümlich auf Trab gebracht wird. Indem Kentridge das verirrte Zeichen einer vom System so nicht mehr gewährleisteten Individualität auch in die inszenierten Filme der Massenaufmärsche hineinklebt, auf anonyme Zugsführerköpfe hoch zu Ross, ergänzt er das "Prinzip Stalin" um dessen unterschlagenen Rest.
Kentridge dreht keine lange Nase, er blendet sie ins Geschehen hinein. Er ergänzt aber auch die wesentlichen Embleme der Bildwerdung - die Grafikelemente des Futurismus - mit der Laufschrift jener Dialoge, die als Zitate aus Plenarsitzungen des Zentralkomitees der KPdSU (26. Februar 1937) von der Selbstanklage Bucharins handeln. Der unangenehm joviale Ton einer parteiinternen Vendetta sticht grell ab vom Pathos der Fortschrittsseligkeit.
Erstarrung ohne Lösung
Und über alle bewegten Bildflächen hinweg dröhnt die Laokoon-Musik Schostakowitschs: die schmerzlichen Lösungen einer allgemeinen, durch nichts zu korrigierenden Erstarrung, an deren Ende GULag, Zwangsumsiedlung und Massenliquidationen stehen. Das Projekt der Moderne, exzeptionell aufbewahrt in den Designvorschlägen der Futuristen, verebbt im Geschmetter einer Musik, die sich mit den Verordnungen der sozialistischen Reichskulturkammer ebenso fruchtlos wie aufsässig herumplagt.
Zwischen allen Fronten aber steht Kentridge, der Künstler als Historiograf: Seine Nase-Inszenierung zeigt Schattenwürfe, die den Gesichtsverlust jener Tausende belegen, die zackig in den Terror schritten. Es sind die Retuschen der geschichtlichen Überlieferung, die in Kentridges meisterhafter Installation als das aufscheinen, was sie sind: Korrekturen des Nichts. (Ronald Pohl / DER STANDARD, Printausgabe, 19. 11. 2010)
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