Käfer, Libellen und Seiltänzerinnen

Die Keramikerin Canan Dagdelen bannt die Erinnerung ihrer türkischen Kindheit in Ton. Wie Puzzlesteine ergeben die Tontafeln Stück für Stück ein Bild persönlicher und kollektiver Erinnerung.


Am Stadtrand von Wien, im Hinterhof eines klassizistischen Hauses, liegt die Werkstatt der aus der Türkei stammende Künstlerin Canan Dagdelen. Umgeben von Pflanzen, alten Gartenstühlen, nur vom Tapsen einer launischen Katze gestört, brennt hier die Keramikerin ihre Kunstwelt in weißen Ton.

Auf unglasierter Oberfläche tummeln sich Libellen, Kokons von Käfern, entschlüpfte Nachtfalter. Bei näherer Betrachtung lassen sich Umrisse großporiger Gesichter erkennen, die von eingekerbten Hieroglyphen und Keilschrift überzogen sind. Geschwungene lateinische Schriftzüge machen sich breit.

Canan Dagdelen / ©Bild: Rupert Steiner
Canan Dagdelen / ©Bild: Rupert Steiner

Kindheit auf Ton

Mit Hilfe eines von ihr entwickelten Druckverfahrens stanzt Canan Dagdelen verschiedenste Fundstücke ihrer türkischen Kindheit in den Ton. Sie verwendet Fotos, die sie als siebenjähriges Mädchen zeigen und Bilder aus dem Kinderbuch "Die Abenteuer der kleinen Aschegül". Die Geschichten des Mädchens Aschegül faszinierten sie schon als Kind. Nun träumt Aschegül auf gebrannten Tonziegeln vom Zirkus und wir sehen sie auf einem Drahtseil mit Sonnenschirm tanzen.

Memoria eines Lebens

Individuelle und kollektive Erinnerung sind wesentliche Themen der Kunst von Canan Dagdelen. Einige ihrer Bildtafeln haben die Größe von Mauerziegeln. Andere wiederum sind kleiner, quadratisch, rechteckig, und lassen sich wie bei einem Puzzlespiel zu einem gebauten Bild zusammenfügen. So wie Ziegelstein an Ziegelstein eine gebaute Struktur ergeben, so setzt sich auch die Memoria der Künstlerin an die zurückgelassene Kinderheit in der Türkei zusammen.

Trotz dieser persönlichen Ikonografie erscheinen uns Dagedelens Bildtafeln vertraut. Es haftet ihnen etwas Erkennbares an. Man denkt an die keramische Verzierungen des europäischen Südens und an die Dekors levantinischer Gebäude.

Ornament, Schrift, Abstraktion

Es ist die mediterrane Kultur des Orients auf der Canan Dagdelen ihre persönliche Mythologie entwirft. Die verwendeten Formen, das tönerne Material, der Dekor und die Schriftzeichen haben ihre Quellen in der vorchristlichen persischen Kunst und in der ornamentalen, abstrakten, schriftlichen Kultur des Islams.

Canan Dagdelen / ©Bild: Rupert Steiner
Canan Dagdelen / ©Bild: Rupert Steiner

Von der Heimat geprägt

Im Gespäch erwähnt die Künstlerin wie sehr sie die bunten Ziegelreliefs auf dem babylonischen Ischtator, auf dem Löwen- und Bogenschützenfries von Susa faszinierten. Sie bewundert die handwerkliche Fähigkeit, die Präzision und Sorgsamkeit der persischen Architekten und Dekorateure, die im lehmigen Boden zwischen Euphrat und Tigris das Material zur Gestaltung und Verschönerung des täglichen Lebens fanden. Die Entfaltung des Kreativen in Ornament und Schrift, die durch den Verzicht eines Abbildes von Gott und der Propheten im Islam zu endlosen Arabesken, Girlanden und kalligrafischen Variationen der Verherrlichung Allahs führten, prägten Dagdelens Blick und Schaffen.

DAY-white-DREAMS

Im Gegensatz zu den erwähnten Wurzeln verzichtet sie aber auf jede Farbigkeit. Ihr Element ist das Weiß. Ein Weiß, das im physikalischen Sinn keine Farbe ist. Vielmehr ist es ein durchsichtiger Körper, der sämtliche auf sich fallende Lichtstrahlen zurückwirft.

Selbstbewusstsein in weiß

Jene Transparenz, die durch Malewitsch und die russischen Formalisten zu einem Symbol der Reinheit und Unschuld wurde, meint Dagdelen, wenn sie von der Unberührtheit des weißen Trägermaterials spricht. Der weiße Ton dient in ihren Arbeiten als unbeschriebene Fläche, als tabula rasa, als leere Leinwand oder als ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier, auf dem Canan Dagdelen ihre Zeichen eingraviert. Wie eine tönerne Tautologie klingen daher die Titel ihrer Werke: SELF-white-EVIDENT, DAY-white-DREAM, WRITE-white-OUT. "White" als materialisiertes Tonstück ihrer Träume vom Gestern und Heute.

Die tönerne Schale im Atelier von Canan Dagdelen
Die tönerne Schale im Atelier von Canan Dagdelen

Die verkehrte Welt

Auch der Humor kommt in Dagdelens Arbeiten nicht zu kurz. In der kleinen Auslage der Galerie ist eine aus tönernen Ziegeln geformte Schale, eine ihrer jüngsten Arbeiten, zu sehen. Darüber schwebt ein Boden aus Ton. Im Islam stellt die Kuppel von Moscheen das himmlische Paradies dar. Der Boden ist die Welt, auf der die Menschheit wandelt. Dagdelen dreht dieses Jahrhunderte alte Prinzip in ihrer Arbeit "upturn-uproot" auf den Kopf. Heute steht der Mensch auf einem in der Luft schwebenden Boden. Jede Verbindung mit der Erde scheint verloren. Unter ihm aber befindet sich die himmlische Schale. Wird sie den Sturz des Menschens ins Bodenlose auffangen können?

Tipp:

Die Ausstellung von Canan Dagdelen ist bis zum 1.4.2000 in der Wiener Galerie Atrium ed Arte zu sehen. Am 20.3. um 19 Uhr findet eine Lesung von Michael Donhauser in den Räumen der Galerie statt.

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