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Käfer, Libellen und Seiltänzerinnen |
Die Keramikerin Canan Dagdelen bannt die Erinnerung ihrer türkischen Kindheit in Ton. Wie Puzzlesteine ergeben die Tontafeln Stück für Stück ein Bild persönlicher und kollektiver Erinnerung.
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Am Stadtrand von Wien, im Hinterhof eines
klassizistischen Hauses, liegt die Werkstatt der aus der Türkei stammende
Künstlerin Canan Dagdelen. Umgeben von Pflanzen, alten Gartenstühlen, nur
vom Tapsen einer launischen Katze gestört, brennt hier die Keramikerin
ihre Kunstwelt in weißen Ton. Auf unglasierter Oberfläche tummeln sich Libellen, Kokons von Käfern,
entschlüpfte Nachtfalter. Bei näherer Betrachtung lassen sich Umrisse
großporiger Gesichter erkennen, die von eingekerbten Hieroglyphen und
Keilschrift überzogen sind. Geschwungene lateinische Schriftzüge machen
sich breit.
Kindheit auf Ton Mit Hilfe eines von ihr entwickelten Druckverfahrens stanzt Canan
Dagdelen verschiedenste Fundstücke ihrer türkischen Kindheit in den Ton.
Sie verwendet Fotos, die sie als siebenjähriges Mädchen zeigen und Bilder
aus dem Kinderbuch "Die Abenteuer der kleinen Aschegül". Die Geschichten
des Mädchens Aschegül faszinierten sie schon als Kind. Nun träumt Aschegül
auf gebrannten Tonziegeln vom Zirkus und wir sehen sie auf einem Drahtseil
mit Sonnenschirm tanzen. Memoria eines Lebens Individuelle und kollektive Erinnerung sind wesentliche Themen der
Kunst von Canan Dagdelen. Einige ihrer Bildtafeln haben die Größe von
Mauerziegeln. Andere wiederum sind kleiner, quadratisch, rechteckig, und
lassen sich wie bei einem Puzzlespiel zu einem gebauten Bild
zusammenfügen. So wie Ziegelstein an Ziegelstein eine gebaute Struktur
ergeben, so setzt sich auch die Memoria der Künstlerin an die
zurückgelassene Kinderheit in der Türkei zusammen. Trotz dieser persönlichen Ikonografie erscheinen uns Dagedelens
Bildtafeln vertraut. Es haftet ihnen etwas Erkennbares an. Man denkt an
die keramische Verzierungen des europäischen Südens und an die Dekors
levantinischer Gebäude. Ornament, Schrift, Abstraktion Es ist die mediterrane Kultur des Orients auf der Canan Dagdelen ihre
persönliche Mythologie entwirft. Die verwendeten Formen, das tönerne
Material, der Dekor und die Schriftzeichen haben ihre Quellen in der
vorchristlichen persischen Kunst und in der ornamentalen, abstrakten,
schriftlichen Kultur des Islams.
Von der Heimat geprägt Im Gespäch erwähnt die Künstlerin wie sehr sie die bunten Ziegelreliefs
auf dem babylonischen Ischtator, auf dem Löwen- und Bogenschützenfries von
Susa faszinierten. Sie bewundert die handwerkliche Fähigkeit, die
Präzision und Sorgsamkeit der persischen Architekten und Dekorateure, die
im lehmigen Boden zwischen Euphrat und Tigris das Material zur Gestaltung
und Verschönerung des täglichen Lebens fanden. Die Entfaltung des
Kreativen in Ornament und Schrift, die durch den Verzicht eines Abbildes
von Gott und der Propheten im Islam zu endlosen Arabesken, Girlanden und
kalligrafischen Variationen der Verherrlichung Allahs führten, prägten
Dagdelens Blick und Schaffen. DAY-white-DREAMS Im Gegensatz zu den erwähnten Wurzeln verzichtet sie aber auf jede
Farbigkeit. Ihr Element ist das Weiß. Ein Weiß, das im physikalischen Sinn
keine Farbe ist. Vielmehr ist es ein durchsichtiger Körper, der sämtliche
auf sich fallende Lichtstrahlen zurückwirft. Selbstbewusstsein in weiß Jene Transparenz, die durch Malewitsch und die russischen Formalisten
zu einem Symbol der Reinheit und Unschuld wurde, meint Dagdelen, wenn sie
von der Unberührtheit des weißen Trägermaterials spricht. Der weiße Ton
dient in ihren Arbeiten als unbeschriebene Fläche, als tabula rasa, als
leere Leinwand oder als ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier, auf dem
Canan Dagdelen ihre Zeichen eingraviert. Wie eine tönerne Tautologie
klingen daher die Titel ihrer Werke: SELF-white-EVIDENT, DAY-white-DREAM,
WRITE-white-OUT. "White" als materialisiertes Tonstück ihrer Träume vom
Gestern und Heute.
Die verkehrte Welt Auch der Humor kommt in Dagdelens Arbeiten nicht zu kurz. In der
kleinen Auslage der Galerie ist eine aus tönernen Ziegeln geformte Schale,
eine ihrer jüngsten Arbeiten, zu sehen. Darüber schwebt ein Boden aus Ton.
Im Islam stellt die Kuppel von Moscheen das himmlische Paradies dar. Der
Boden ist die Welt, auf der die Menschheit wandelt. Dagdelen dreht dieses
Jahrhunderte alte Prinzip in ihrer Arbeit "upturn-uproot" auf den Kopf.
Heute steht der Mensch auf einem in der Luft schwebenden Boden. Jede
Verbindung mit der Erde scheint verloren. Unter ihm aber befindet sich die
himmlische Schale. Wird sie den Sturz des Menschens ins Bodenlose
auffangen können? Tipp: Die Ausstellung von Canan Dagdelen ist bis zum 1.4.2000 in der Wiener
Galerie Atrium ed
Arte zu sehen. Am 20.3. um 19 Uhr findet eine Lesung von Michael
Donhauser in den Räumen der Galerie statt. | ||||||||
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