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14.03.2003 - Ausstellung
Auf allen Flächen gleich besessen
Mit "Edvard Munch: Thema und Variation" setzt die Wiener Albertina nach ihrer Renovierung auf die Erweiterung der alten Papierschau-Gewohnheiten. Denn Munch war soviel Maler wie Grafiker.
VON HANS HAIDER


D
ie Böden: Schlankes Streifenpar kett in dunklem Braun. Viele Mau erflächen und Decken weiß. In beinahe jedem Saal raumhohe Wandkörper in dumpfem Rot oder Blau, verrückbar für jede folgende Ausstellung; sie halten dem Besucherstrom gleich am Anfang des Zwangswegs fesselnde Gemälde entgegen wie "Schrei" oder "Verzweiflung". Alle Bilderrahmen sind auffallend tief gehängt, sie haben über sich mehr Weiß als darunter: ein optischer Trick, so gewinnen Räume wieder Höhe, in denen abgehängte Decken Versorgungsleitungen kaschieren.

Raum, Wand, Bild in perfekter Inszenierung. Jeder Museumsmann scheut zwar die Melange von Gemälden neben bunten oder gar schwarz-weißen Bildern auf Papier. Hier ist sie Prinzip, und wohl darum auch optisch so befriedigend, weil man das Programm dahinter leicht erkennt: "Thema und Variation" - so auch der Ausstellungstitel -, also Bildfindung, Durcharbeitung, Perfektion ein und desselben Motivs auf Leinwand, gezeichnet, radiert, in Holz geschnitten, koloriert, noch einmal übermalt . . .

Gemälde und die dazugehörenden Grafiken sind um Leit-Bilder in Öl mit bekannten Titeln gruppiert - wie "Die Stimme", "Madonna", "Loslösung", "Der Kuss", "Eifersucht", "Die Einsamen", "Der Schrei", "Am Totenbett", "Mädchen auf dem Pier", "Selbstporträt".

Für die Albertina - als Munch-Kuratoren sind Direktor Klaus Albrecht Schröder und Antonia Hoerschelmann genannt - eröffnete diese programmatische Festlegung die Chance, rund zwanzig eigene Blätter in einen Überblick über das Gesamtschaffen einzusortieren. Man ist an den Witz erinnert vom Mann, der auf der Gasse einen Knopf findet und sich dazu einen Mantel schneidern lässt.

Ein schöner Mantel! Fast allen Mantelstoff lieferte das Munch-Museum Oslo, das den Nachlass von immerhin 1100 Gemälden, 18.000 Grafiken sowie 3000 Zeichnungen und Aquarellen birgt. Unter den anderen Leihgaben stechen bei den Farbholzschnitten sechs Variationen der "Zwei Frauen am Strand" aus der National Gallery Washington hervor.

Der "Abend auf der Karl Johans Gate" (1892) aus Bergen stimmt in den Rundgang ein: Leere Bürgerfratzen drängen sich über ein Trottoir nach vorne. Aus Boston kam die erste Fassung des Gemälde "Die Stimme" (1893), das Museum of Modern Art borgte das Ölbild "Der Sturm" (1893), die Nationalgalerie Oslo den "Mondschein" (1893) - ein Hauptwerk mit dem für Munch so typischen von der dargestellten Person gelösten Schlagsschatten; zu vergleichen ist ein (rothaariger weiblicher) "Vampir" aus Oslo mit einem knapp früheren aus Kopenhagen (beide 1893).

Aus Bergen reisten auch eine "Melancholie" (1894/95) an - das Bild bezeugt auch ein Wohlbehagen mit diesem Seelenzustand - sowie eine Szene "Am Totenbett" (1895). Zwei Munch-Gemälde lieh die Österreichische Galerie Belvedere: eine "Sommernacht am Strand" (1902), mit dem oft wiederkehrenden rätselhaften Symbolmotiv der "Mondsäule" (der Mond spiegelt sich als solche im Wasser), sowie das Doppelporträt "Paul Hermann und Paul Contard" (1897). Ein imponierendes, herrisches Porträt: Walter Rathenau 1907, damals noch Juniorchef der AEG.

Der "Maler u. Graphiker (Radierer, Lithograph, Holzschneider)", wie das Thieme/
Becker Künstlerlexikon Edvard Munch ausweist, ist in allen Medien, allen Techniken nebeneinander unterwegs wie eine mit Obsession befeuerte Lokomotive. Darin blieb Edvard Munch ein Vorbild der deutschen Expressionisten. Sie gaben dann freilich den Linien stärkere Konturen und arbeiteten auf größere Auflagen hin, während viele Munch-Drucke malerische Lösungen festhalten - zur Vorbereitung für weitere Beschäftigungen mit dem jeweiligen Motiv. Mit kräftigen Farben malt er in Holzschnitte hinein, setzt neue Akzente, sucht neue Effekte - und überträgt sie zurück auf Leinwände.

So präsentieren sich in der Albertina vor dem Betrachterauge nicht die singulären Ikonen einer symbolistischen oder expressionistischen Moderne - sondern ganze Schaffensprozesse. Die ziehen sich oft über viele Jahre hin. Manche Emotionen, die ihre Bildspuren hinterließen, waren von kurzer Dauer - etwa Liebesbeziehungen. Viele andere aber - Angst, schwarze Melancholie, Mitleid, Einsamkeit - ziehen sich durch das ganze breite Schaffen des Norwegers, der 1944 im Alter von 81 Jahren gestorben ist.

Um 1940 hat Edvard Munch sein letztes großes Selbstporträt gemalt: Ein Mann mit kleinem Greisenkopf steht in einem Zimmer

Fortsetzung auf Seite 34
zwischen einer schwarzen Uhr und einem Bett (es gleicht einem Sarg und ist von einem Tuch in den Farben Norwegens bedeckt), in einem offenen Schrank schwebt, wie eine süße Erinnerung, eine nackte Frau. Mit diesem Bild werden die Besucher aus dem Atelier entlassen.

Ein Frankreich-Stipendium (1889/92) stärkt Munchs noch unter impressionistischer Routine verborgenen Drang zu Symbolen. 1892 schaukelt sich eine Ausstellung in Berlin zum Skandal auf - im selben Jahr führte Otto Brahms "Freie Bühne" schon Strindbergs "Fräulein Julie" auf. In Berlin wurde gleichzeitig für die Durchsetzung des Naturalismus und dessen Überwindung gekämpft, mit Skandinaviern als Fahnenheiligen: dem alten Ibsen und dem jungen Strindberg. Munch zieht für viele Winter nach Berlin - in seinen vielleicht besten Jahren.

In Berlin fand Edvard Munch engen Kontakt zu einem deutsch schreibenden Polen aus Österreichisch-Galizien: dem tief in sexuellen Mystizismus und in okkulte Dämonie verstrickten Verfasser ästhetischer Programme Stanislaw Przybyszewski (1868 bis 1927). Von den Porträts, die Munch von diesem Freund machte, hängen mehrere zu Beginn der Ausstellung - wie als Leitmotiv für dunkle Seelenbezirke. Ein Ölbild zeigt die schöne Dagny Przybyszewska, der Munch in einem Dreiecksverhältnis verbunden war. Bis sie 1901 von einem Schüler ihres Mannes ermordet wurde. 1904 werden in der Wiener Secession zwanzig Munch-Gemälde gezeigt. Noch ein weiterer Österreich-Bezug: 1906 entwirft Munch die Dekoration für Ibsens "Gespenster", mit denen Max Reinhardt in Berlin seine Kammerspiele eröffnet.

Die Ankündigung vor zwei Jahren, dass Edvard Munch als erster Kunst-Stern über der Grafiksammlung Albertina aufgehen soll, provozierte manches Kopfschütteln. Doch dem Grafiker Munch wurde alle Ehre erwiesen, indem man Blätter von seiner Hand mit den passenden Bildern kombinierte.

Bis 22. Juni täglich 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 21 Uhr.



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