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ie Böden: Schlankes Streifenpar kett in dunklem Braun. Viele Mau
erflächen und Decken weiß. In beinahe jedem Saal raumhohe Wandkörper in
dumpfem Rot oder Blau, verrückbar für jede folgende Ausstellung; sie
halten dem Besucherstrom gleich am Anfang des Zwangswegs fesselnde Gemälde
entgegen wie "Schrei" oder "Verzweiflung". Alle Bilderrahmen sind
auffallend tief gehängt, sie haben über sich mehr Weiß als darunter: ein
optischer Trick, so gewinnen Räume wieder Höhe, in denen abgehängte Decken
Versorgungsleitungen kaschieren.
Raum, Wand, Bild in perfekter Inszenierung. Jeder
Museumsmann scheut zwar die Melange von Gemälden neben bunten oder gar
schwarz-weißen Bildern auf Papier. Hier ist sie Prinzip, und wohl darum
auch optisch so befriedigend, weil man das Programm dahinter leicht
erkennt: "Thema und Variation" - so auch der Ausstellungstitel -, also
Bildfindung, Durcharbeitung, Perfektion ein und desselben Motivs auf
Leinwand, gezeichnet, radiert, in Holz geschnitten, koloriert, noch einmal
übermalt . . .
Gemälde und die dazugehörenden Grafiken sind um
Leit-Bilder in Öl mit bekannten Titeln gruppiert - wie "Die Stimme",
"Madonna", "Loslösung", "Der Kuss", "Eifersucht", "Die Einsamen", "Der
Schrei", "Am Totenbett", "Mädchen auf dem Pier", "Selbstporträt".
Für die Albertina - als Munch-Kuratoren sind Direktor
Klaus Albrecht Schröder und Antonia Hoerschelmann genannt - eröffnete
diese programmatische Festlegung die Chance, rund zwanzig eigene Blätter
in einen Überblick über das Gesamtschaffen einzusortieren. Man ist an den
Witz erinnert vom Mann, der auf der Gasse einen Knopf findet und sich dazu
einen Mantel schneidern lässt.
Ein schöner Mantel! Fast allen Mantelstoff lieferte das
Munch-Museum Oslo, das den Nachlass von immerhin 1100 Gemälden, 18.000
Grafiken sowie 3000 Zeichnungen und Aquarellen birgt. Unter den anderen
Leihgaben stechen bei den Farbholzschnitten sechs Variationen der "Zwei
Frauen am Strand" aus der National Gallery Washington hervor.
Der "Abend auf der Karl Johans Gate" (1892) aus Bergen
stimmt in den Rundgang ein: Leere Bürgerfratzen drängen sich über ein
Trottoir nach vorne. Aus Boston kam die erste Fassung des Gemälde "Die
Stimme" (1893), das Museum of Modern Art borgte das Ölbild "Der Sturm"
(1893), die Nationalgalerie Oslo den "Mondschein" (1893) - ein Hauptwerk
mit dem für Munch so typischen von der dargestellten Person gelösten
Schlagsschatten; zu vergleichen ist ein (rothaariger weiblicher) "Vampir"
aus Oslo mit einem knapp früheren aus Kopenhagen (beide 1893).
Aus Bergen reisten auch eine "Melancholie" (1894/95) an -
das Bild bezeugt auch ein Wohlbehagen mit diesem Seelenzustand - sowie
eine Szene "Am Totenbett" (1895). Zwei Munch-Gemälde lieh die
Österreichische Galerie Belvedere: eine "Sommernacht am Strand" (1902),
mit dem oft wiederkehrenden rätselhaften Symbolmotiv der "Mondsäule" (der
Mond spiegelt sich als solche im Wasser), sowie das Doppelporträt "Paul
Hermann und Paul Contard" (1897). Ein imponierendes, herrisches Porträt:
Walter Rathenau 1907, damals noch Juniorchef der AEG.
Der "Maler u. Graphiker (Radierer, Lithograph,
Holzschneider)", wie das Thieme/
Becker Künstlerlexikon Edvard Munch
ausweist, ist in allen Medien, allen Techniken nebeneinander unterwegs wie
eine mit Obsession befeuerte Lokomotive. Darin blieb Edvard Munch ein
Vorbild der deutschen Expressionisten. Sie gaben dann freilich den Linien
stärkere Konturen und arbeiteten auf größere Auflagen hin, während viele
Munch-Drucke malerische Lösungen festhalten - zur Vorbereitung für weitere
Beschäftigungen mit dem jeweiligen Motiv. Mit kräftigen Farben malt er in
Holzschnitte hinein, setzt neue Akzente, sucht neue Effekte - und
überträgt sie zurück auf Leinwände.
So präsentieren sich in der Albertina vor dem
Betrachterauge nicht die singulären Ikonen einer symbolistischen oder
expressionistischen Moderne - sondern ganze Schaffensprozesse. Die ziehen
sich oft über viele Jahre hin. Manche Emotionen, die ihre Bildspuren
hinterließen, waren von kurzer Dauer - etwa Liebesbeziehungen. Viele
andere aber - Angst, schwarze Melancholie, Mitleid, Einsamkeit - ziehen
sich durch das ganze breite Schaffen des Norwegers, der 1944 im Alter von
81 Jahren gestorben ist.
Um 1940 hat Edvard Munch sein letztes großes
Selbstporträt gemalt: Ein Mann mit kleinem Greisenkopf steht in einem
Zimmer
Fortsetzung auf Seite 34
zwischen einer schwarzen Uhr und einem
Bett (es gleicht einem Sarg und ist von einem Tuch in den Farben Norwegens
bedeckt), in einem offenen Schrank schwebt, wie eine süße Erinnerung, eine
nackte Frau. Mit diesem Bild werden die Besucher aus dem Atelier
entlassen.
Ein Frankreich-Stipendium (1889/92) stärkt Munchs noch
unter impressionistischer Routine verborgenen Drang zu Symbolen. 1892
schaukelt sich eine Ausstellung in Berlin zum Skandal auf - im selben Jahr
führte Otto Brahms "Freie Bühne" schon Strindbergs "Fräulein Julie" auf.
In Berlin wurde gleichzeitig für die Durchsetzung des Naturalismus und
dessen Überwindung gekämpft, mit Skandinaviern als Fahnenheiligen: dem
alten Ibsen und dem jungen Strindberg. Munch zieht für viele Winter nach
Berlin - in seinen vielleicht besten Jahren.
In Berlin fand Edvard Munch engen Kontakt zu einem
deutsch schreibenden Polen aus Österreichisch-Galizien: dem tief in
sexuellen Mystizismus und in okkulte Dämonie verstrickten Verfasser
ästhetischer Programme Stanislaw Przybyszewski (1868 bis 1927). Von den
Porträts, die Munch von diesem Freund machte, hängen mehrere zu Beginn der
Ausstellung - wie als Leitmotiv für dunkle Seelenbezirke. Ein Ölbild zeigt
die schöne Dagny Przybyszewska, der Munch in einem Dreiecksverhältnis
verbunden war. Bis sie 1901 von einem Schüler ihres Mannes ermordet wurde.
1904 werden in der Wiener Secession zwanzig Munch-Gemälde gezeigt. Noch
ein weiterer Österreich-Bezug: 1906 entwirft Munch die Dekoration für
Ibsens "Gespenster", mit denen Max Reinhardt in Berlin seine Kammerspiele
eröffnet.
Die Ankündigung vor zwei Jahren, dass Edvard Munch als
erster Kunst-Stern über der Grafiksammlung Albertina aufgehen soll,
provozierte manches Kopfschütteln. Doch dem Grafiker Munch wurde alle Ehre
erwiesen, indem man Blätter von seiner Hand mit den passenden Bildern
kombinierte.
Bis 22. Juni täglich 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 21
Uhr.
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