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5. April 2002,  02:12, Neue Zürcher Zeitung

Wege aus dem Untergang

Afrikas Metropolen im Blick der Documenta-Plattform

Der US-Nigerianer Okwui Enwezor wurde mit der Leitung der elften Documenta in Kassel betraut. Im Vorfeld der internationalen Kunstausstellung, die am 8. Juni eröffnet wird, fanden mehrere Vorkonferenzen statt. Auf der vierten dieser «Plattformen» suchte man in Lagos nach Auswegen aus dem Todeskampf afrikanischer Metropolen.

Es begann, wie so oft in der Kunst, mit einem Missverständnis. Nigerianische Maler, Bildhauer und Literaten standen schon Schlange und warteten auf ihr grosses Los. Dann mussten sie erfahren, dass die Vorkonferenz der elften Documenta keine Möglichkeiten zum Präsentieren der eigenen Werke bietet. Stattdessen nahm sich die Plattform 4 eines sozialen Themas an, wie auch schon die drei vorherigen Konferenzen in Wien, Delhi und St. Lucia: «Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte, Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos.» Zu dieser Themenwahl sagte der künstlerische Leiter der Documenta 11, Okwui Enwezor, in einem Gespräch mit dieser Zeitung: «Die globale Besiedelung stellt vielen Wissenschaftern die Frage, welches die Musterbeispiele für die Konzeption einer Stadt sein können. Wie können wir mit unkontrollierten Auswüchsen umgehen, wenn die Stadt sich anders entwickelt als geplant?»

Darauf versuchten die rund 40 Teilnehmer aus unterschiedlichen Wissensgebieten Antworten zu finden. Vor allem der «Council for the Development of Social Science Research in Africa», Codesria, wurde von der Documenta 11 damit betraut, unter anderem Stadtplaner, Architekten, Soziologen, Politikwissenschafter, Ökonomen, Kriminologen, Sozialarbeiter und Künstler zusammenzubringen. Man wollte ein Forum für Auseinandersetzungen bieten. Vorschläge, Theorien und Methoden sollten diskutiert werden, sagte der Koordinator Chika Okeke. Dennoch sei nicht beabsichtigt gewesen, handfeste Lösungswege hervorzubringen. «Wir arbeiten diagnostisch, nicht prognostisch», war eine der Erklärungen während des fünftägigen Arbeitskreises. Das private Forschungsinstitut Codesria arbeitet in Dakar, Senegal, in Kooperation mit Wissenschaftern in aller Welt an afrikanischen Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme des Kontinents.

Die Direktorin für Forschung und Dokumentation, Sheila Bunwaree, sieht einen Lösungsweg für die Probleme afrikanischer Städte in einem gemeinsamen Ansatz der Disziplinen. Sie will der Dynamik der Strassenkultur viel mehr Platz bei der Stadtentwicklung einräumen, als ihr bislang von Planern zugestanden wurde. Auch Okwui Enwezor sieht die im ersten Moment augenscheinliche Anarchie in afrikanischen Städten nicht grundsätzlich als hoffnungslos an. Afrikanische Städte gestalteten sich eigentlich extrem «unurban», messe man sie an der klassischen Idee einer Stadt, sagt der gebürtige Nigerianer. Neue Interpretationen seien notwendig.

Die Reaktionen der nigerianischen Öffentlichkeit kamen zögerlich. Die Bürger von Lagos stehen der Entwicklung ihrer Stadt nachgerade fassungslos gegenüber. In gut zehn Jahren soll es fast doppelt so viel Einwohner geben wie die 13 Millionen, die bereits heute gezählt werden: Lagos wäre dann nach UN-Schätzungen die drittgrösste Stadt der Welt. Anfang März stellte die Uno eine Studie fertig mit dem Titel «Lagos erstickt - ein Szenario, das verhindert werden muss». Die meisten Einwohner der Megalopolis sehen ihre Stadt ähnlich wie Tunde Okolie in einem Artikel der Lagoser Tageszeitung «This Day». Okolie schreibt von dem bedenklichen Ruf Lagos', die dysfunktionalste Stadt in der Region zu sein. Ein Bürger malt ein noch düstereres Bild: «Alles ist verloren in Lagos. Keine Strassen, keine Häuser, nichts. Ich denke, ich schliesse mich denjenigen an, die sagen, dass die letzte Stunde von Lagos geschlagen hat.» Kaum ein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht seitenweise über kaum für möglich gehaltene Missstände in der 13-Millionen-Stadt berichten. Neue Raub- und Diebstahlstrategien werden erklärt, Ritualmorde verteufelt und Fragen gestellt nach der Herkunft des exorbitanten Reichtums, über den einige wenige verfügen.

Dennoch blieb die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Plattform-4-Ideen dürftig - oder vielmehr gibt es nicht erst seit diesem Anlass Versuche von Bewohnern der Metropole, pragmatische Antworten und Vorschläge auf ihre Probleme zu finden. Es sei vielleicht ganz interessant, befand man, die Wege von Teilnehmern eines informellen Marktes aus der Vogelperspektive zu beobachten und in skizzierter Form zu analysieren, um dann festzustellen, dass eine immerhin erstaunliche Effizienz arbeitet, die das System vor dem drohenden Zusammenbruch bewahrt. Dennoch sehen die Vorschläge in Leserbriefen und von Kommentatoren in den Zeitungen anders und pragmatischer aus: mehr Wohnungsbau, alternativer, öffentlicher Transport zu den alles beherrschenden Taxibussen und Arbeit für die Massen arbeitsloser Jugendlicher und Erwachsener. Dann würden Kriminalität, Perspektivlosigkeit, Prostitution und andere Probleme von alleine zurückgehen. Dass eine Konferenz von dieser Tragweite aber überhaupt noch in Lagos stattfand, wurde in der Öffentlichkeit als Lichtblick wahrgenommen.

Hakeem Jimo

 
 
 

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