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(ddp-Wortlautinterview) «Uns interessiert nicht, ob irgendetwas Kunst ist» - documenta-Chef Roger M. Buergel über die zwölfte Kasseler Weltkunstschau

Am 16. Juni öffnet die documenta in Kassel zum zwölften Mal ihre Tore. Die Schau zählt zu den bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst weltweit. Rund 650 000 Besucher werden bis zum 23. September erwartet. Was sie zu sehen bekommen, erläutert der künstlerische Leiter Roger M. Buergel (44) im Gespräch mit ddp-Korrespondent Joachim F. Tornau.

Kassel (ddp). Am 16. Juni öffnet die documenta in Kassel zum zwölften Mal ihre Tore. Die Schau zählt zu den bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst weltweit. Rund 650 000 Besucher werden bis zum 23. September erwartet. Was sie zu sehen bekommen, erläutert der künstlerische Leiter Roger M. Buergel (44) im Gespräch mit ddp-Korrespondent Joachim F. Tornau. ddp: Herr Buergel, Sie haben eine politische Ausstellung angekündigt. Was bedeutet das für Sie? Buergel: Die Ausstellung stellt sich der Aufgabe, ein Gemeinwesen zu schaffen. Sie soll die Leute aufwiegeln und dazu bringen, sich selber zu aktivieren und aus einer gewissen Grundlethargie herauszukommen. Es geht um das Bewusstsein, dass es auf sie, auf das einzelne Individuum ankommt. Die Ausstellung ist in diesem ursprünglichen Sinne politisch - und nicht in dem Sinne, dass die Kunstwerke irgendetwas illustrieren, indem sie beispielsweise von Heiligendamm handeln. ddp: Gleichzeitig sprechen Sie davon, dass die documenta eine «Bildungsinstitution» sein soll. Das klingt recht schulmeisterlich. Erwartet uns in Kassel eine Lehrveranstaltung? Buergel: Ja, aber mit dem Unterschied, dass es niemanden gibt, der einem etwas eintrichtert. Sondern man ist gehalten, selber zu arbeiten - auch an sich. Kunst gibt uns eine Chance, Elemente an uns selber zu entdecken, die uns neu sind. Weil man immer in gewisse Extremsituationen gestürzt wird. Insofern hat Bildung hier sehr viel mit Selbstsorge zu tun, mit dem, was man sich selber schuldig ist. Interessiert man sich für Flachheit und erlaubt sich das Verblöden oder arbeitet man an sich? Das sind die Optionen. ddp: Was tut die documenta, um ihren Besuchern diese Arbeit zu ermöglichen? Buergel: Wir zeigen gute Kunst. Und: Wir zeigen sie in einer Umgebung, die einem Lust macht - betont hedonistisch, gartenhaft, fußläufig. Es gibt keine Ablenkung mit gequetschten Busreisen oder derartigen Dingen. Stattdessen setzen wir auf Großzügigkeit in der Anlage der Räume. ddp: Sie wollen dabei nicht nur Arbeiten aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zeigen, sondern auch persische Kunst aus dem 14. Jahrhundert oder 600 Jahre alte Teppiche aus Mali. Was ist daran zeitgenössisch? Buergel: Unsere Auffassung vom Zeitgenössischen hat sehr viel damit zu tun, danach zu fragen, was uns Erfahrung ermöglicht. Uns interessiert nicht, ob irgendetwas Kunst ist oder nicht, sondern uns interessiert die Erfahrung. Und wenn ich jetzt beispielsweise bei einer Zeichnung eine Verbindung sehe zwischen Chinesischem und Persischem, dann habe ich ein sehr, sehr zeitgenössisches Bild für das, was wir als Globalisierung bezeichnen. Ich habe ein Bild für eine Welt, die nicht nur zusammenwächst, sondern die wesentlich zusammengehört. Und das suche ich. Wir wollen diese ganzen Fundamente unterminieren, auf die sich Leute stützen, um ihre Identitäten zu zementieren. Das Denken in Nationalstaaten, in Identitäten hat uns das 19. Jahrhundert beigebracht. Wenn man genau hinschaut, dann zerfällt das wie Asche. ddp: Auf der documenta, das zeichnet sich deutlich ab, wird viel Spektakuläres und Publikumswirksames zu sehen sein: Sie haben den spanischen Starkoch Ferran Adrià eingeladen, Sanja Ivekovic legt ein Mohnfeld auf dem Friedrichsplatz an, Peter Friedl zeigt eine präparierte Giraffe, die zum Opfer des Nahostkonflikts wurde. Andererseits wollen Sie ausdrücklich kein Spektakel, keine «Kirmes» veranstalten. Wie passt das zusammen? Buergel: Für mich passt das wunderbar zusammen. Es gibt wahrscheinlich eine ähnliche Differenz zwischen Spektakel und spektakulär, wie es sie zwischen populär und populistisch gibt. Wenn Kunstwerke zünden, finde ich das wunderbar. Was ich nur nicht will, ist eine Event-Veranstaltung, bei der die Veranstaltung die Werke überformt, indem es in Richtung Zirkus geht. ddp: Sie haben einmal gesagt: «Sollte die Ausstellung von allen Seiten als Erfolg durchgewinkt werden, wäre ich am Boden zerstört.» Meinen Sie das ernst? Buergel: Ja, ich meine das komplett ernst. Das ist wie beim Flugzeug: Man braucht Gegenwind, um abzuheben. Da wo sich keine Widerstände regen, da passiert nichts. Da ist Tod. Und daran kann keiner hier ein Interesse haben. ddp/jbk/ple
Ad-Hoc-News.de - 07.06.2007 11:10
Artikel-URL: http://www.ad-hoc-news.de/Marktberichte/12020798

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