Anlaufen gegen die Diktatur
Von Christof Habres
Immer wieder nimmt der hagere, alte Mann die Startposition eines
Läufers bei Leichtathletikwettkämpfen ein. Fast nackt, nur mit einer
Badehose bekleidet, trainiert er den Start und läuft auch einige Meter
über eine mit Steinen übersäte, trostlose Betonwüste.
Obwohl das Video "Start" des rumänischen Künstlers Ion Grigorescu
ohne Ton läuft, glaubt man die Schmerzensschreie des Mannes hören zu
können. Auf jeden Fall spürt man beim Betrachten des Videos unmittelbar
den Schmerz.
Diese beeindruckende Arbeit, die wiederholten Starts eines fragilen
Mannes, das Anrennen gegen die feindliche Umwelt dieser Betonwüste,
verbunden mit der Einsicht, dass es unmöglich ist aus dieser Situation
zu entrinnen, kann stellvertretend für die Biografie des Künstlers
stehen. Ion Grigorescu wurde 1945 in Bukarest geboren und gilt als einer
der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler Rumäniens. Er verweist auf
Ausstellungen in renommierten Galerien, Museen und Kunsthallen – wie
Tate Modern in London, Centre Pompidou in Paris oder Mumok in Wien.
Außerdem vertritt er sein Land bei der diesjährigen Biennale in Venedig.
Auf den ersten Blick scheint das wie der erfolgreiche Lebenslauf
eines anerkannten Künstlers. Jedoch war Grigorescus Weg ebenso steinig
und schmerzhaft wie er es in diesem Video zeigt. Er kam durch seinen
konsequent beschrittenen, künstlerischen Weg mit der kommunistischen
Diktatur von Nicolae Ceaucescu in Konflikt. Grigorescus skulpturale
Arbeiten und Videos widersprachen in ihrer Thematik des schonungslosen
Aufzeigens von Zusammenbruch und Zerfall einer Gesellschaft dem von
offizieller Seite unterstützten Kunstbegriff, der sich hauptsächlich
über Folklore definierte. Das ermüdende Anlaufen des Künstlers gegen
diese (Begriffs-)Diktatur brachte ihn Anfang der 1980er-Jahre zum
Schweigen. Die Jahre bis zur Revolution verbrachte er im Untergrund,
unfähig, ob der erlittenen Demütigungen und Abweisungen, sich
künstlerisch zu äußern.
Multimediale Installation
Nach dem Umsturz dauerte es nicht lange, bis seine Arbeiten
international entdeckt wurden. Die Kunsthistorikerin Magda Radu
bezeichnet ihn als Künstler, der in der dunkelsten Periode Rumäniens
seine moralische Integrität bewahrt hat und dessen Schaffen
bemerkenswerte Kontinuität aufweist. In der Ausstellung "Horse / Men
Market" in der Sammlung Friedrichshof zeigt er vor allem Videos, die in
ihrer rauen Bildsprache und ihrem dokumentarischen Ansatz das
Konfliktpotenzial nachvollziehbar machen. Ergänzt werden die
Filmdokumente mit Skulpturen von Menschen, Hunden und Gerätschaften aus
einfachsten Materialen. In der Kombination verdichtet sich die
Ausstellung zu einer multimedialen Rauminstallation.
Ausstellung
Horse / Men Market
Sammlung Friedrichshof
2424 Zurndorf
Zu sehen bis 9. Oktober
Printausgabe vom Samstag, 04. Juni 2011
Online seit: Freitag, 03. Juni 2011 17:00:00