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07.09.2006 - Kultur&Medien / Ausstellung
Ausstellung: Wie heißt das Kunstwerk?
VON JOHANNA HOFLEITNER
Tino Sehgal fasziniert und irritiert im Kunsthaus Bregenz - mit maximalem Gewinn.

Nicht nur, dass der gläserne Gebäudewürfel des Kunsthauses Bregenz derzeit komplett gegen die Außenwelt abgeschottet ist - der dort ausstellende Künstler Tino Sehgal hat ihn auch bis auf die Mauern leer geräumt. Sogar die Kassa muss für die Dauer der Ausstellung im engen Windfang Platz finden. Wenn der Besucher die schwarze Vorhangschleuse passiert hat, findet er sich in vollkommener Finsternis wieder, tastend darauf wartend, dass - wenn schon die Augen ausgeschaltet sind - zumindest die Hände Halt finden.

Es ist ein Gefühl der Geworfenheit, das der deutsch-britische Künstler (30) mit diesem Setting in Szene setzt. Ganz anders als auf der Venedig-Biennale 2005, wo auf Sehgals Anweisung hin ein paar herumhüpfende Akteure die Besucher launig vor den Kopf stießen, scheint hier die Zeit stehen geblieben, bis sich der Körper halbwegs an Orientierungslosigkeit und Blindheit gewöhnt hat. Dabei ist die Finsternis nur der Vorhof zu einem ausschnitthaften Selbstfindungstrip über drei weitere Etagen.

Kaum heller die darüber liegende Ebene. Als wären sie aus den Wänden getreten, bewegen sich zwei Gestalten schemenhaft aufeinander zu, angesichts der Dämmerung mehr zu spüren als zu sehen. Das Auge erkennt nur langsam, dass die beiden, einmal aufeinander zugekommen, in stiller Umarmung niedersinken, sich langsam aufrichten, tänzeln, sich übereinander beugen. Dann in die Stille hinein plötzlich die Worte: "Tino Sehgal. Kiss. 2002." Es ist die Signatur des Künstlers - nur gesprochen.

Die Szene ist faszinierend und irritierend. Zumal, wenn man endlich erkannt hat, dass die zwei nackt sind, mischt sich ein Gefühl der Beklemmung dazu. Bin ich ein Eindringling? Voyeur? Nein, es geschieht nur auf einer Bühne, zu der das Museum temporär geworden ist.

Noch einmal eine Ebene höher, wandelt sich die Beklemmung in Ratlosigkeit, wenn fünf mit dem Gesicht abgewandte Personen unvermutet eine Einladung zur Diskussion vorbringen: "Ziel dieser Arbeit ist es, zum Gegenstand einer Diskussion zu werden", repetieren die Akteure - um dann bei der ersten Regung des Besuchers mit dem Satz "Wir haben einen Kommentar!" selbst in eine angeregte Konversation zu fallen.

Ganz oben, auf der dank der Glasdecke blendend hellen Ebene des Kunsthauses, klingt die emotionelle Achterbahn aus in Heiterkeit. Ungefähr zwanzig Kinder tollen durch den Raum. "Hallo, ich heiße Michael", sagt einer: "Ich habe mich entschieden, diese Arbeit heißt: ,Se Ssak-se-ilia'." Was das heißt, weiß der vielleicht Achtjährige nicht so genau. Ein anderer mischt sich ein: "Die Arbeit heißt: ,Dii success?'." Ein dritter, in flüssigem Englisch: "The failure." Sehgal legt den Kindern die Frage in den Mund - über ein Werk, das auf Objekthaftigkeit verzichtet und auf dem Kunstmarkt trotzdem blendend reüssiert. "Erfolg" oder "Scheitern"? Jeder Besucher soll den Umgang mit Kunst, ihren eingefahrenen Ritualen, ihrem Betrieb überdenken. Der emotionelle, intellektuelle Tauschwert ist maximal.

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