Bleibendes Geheimnis
Alles. Im großen Format. Zu sehen:
sitzend, links, die erste Person - schräg hinter und neben ihr - sehr nah
und sie berührend - die zweite, stehend. Die sitzende Person blickt nach
oben, hat den Mund leicht geöffnet, als sage sie etwas. Vertrauensvoll
einem Gesicht entgegen, das wir nicht mehr sehen. Die Oberkörper beider
sind nackt. Wie um die Intimität der Szene zu schützen, hält die
stehende Person ihren linken Arm vor die sitzende. Eine kleine Schranke
vor Betrachterblicken, im Vordergrund, zufällig vielleicht, ja, genau
besehen: nur der Ausschnitt eines Unterarms. Denn diese Szene ist ein
Fragment. Und sie konzentriert wie jedes Fragment den Blick aufs gezeigte
Detail: auf Hals und Gesicht des einen, auf die Brust des anderen
Menschen. Der Aufschauende: Schlüsselbein, Adamsapfel, Schatten am
Halsansatz und unterm Kinn, dunkle Augen und Augenbrauen, längeres dunkles
Haar, ein kindlicher, fragender Blick.
Der Sich-Niederbeugende: der Bund
einer dunklen Hose und eine Brust, die weder männlich noch weiblich
ist. Wie ist diese Szene zu deuten? In nächster Nähe
verschwimmen die Grenzen zwischen Freude und Trauer . . . Was geht
zwischen den beiden vor? Erste Begegnung, Abschied, Liebe, Begehren?
Jede Frage zieht weitere nach sich, die voyeuristische Faszination
wächst - der Betrachter kann sich leicht in dieses Bild hineinsehen,
das wie der Ausschnitt einer Geschichte
ist. |
Der Sich-Niederbeugende: der Bund einer dunklen Hose und eine Brust,
die weder männlich noch weiblich ist. Wie ist diese Szene zu deuten?
In nächster Nähe verschwimmen die Grenzen zwischen Freude und Trauer . . .
Was geht zwischen den beiden vor? Erste Begegnung, Abschied, Liebe,
Begehren? Jede Frage zieht weitere nach sich, die voyeuristische
Faszination wächst - der Betrachter kann sich leicht in dieses Bild
hineinsehen, das wie der Ausschnitt einer Geschichte ist. Und doch
zugleich abgerückt, ein Stückweit verblasst, wie etwas Vergehendes, da
nicht bzw. kaum farbig (in Assoziation zu älteren
Schwarzweiß-Fotografien). Oder wie ein besonders intensiv erfahrener
Augenblick: Im Moment höchster Intensität des Glücks oder des Schmerzes,
der Wirklichkeit sieht zumindest der moderne Mensch sich oft wie von
außen, fremd. Hierzu passt, dass die Szene noch nicht das ganze Bild
ist, sondern nur dessen linker Teil (den wir zuerst "lesen" würden.) Den
anderen, rechten, hat die transsexuelle Malerin Conny Kunert (1957 in Wien
geboren) monochrom rot gemalt. In der Mitte der Farbe ein Wort, in
Schreibmaschinentypen: "alles". Die rote, ins Auge springende Fläche, das
kleine Wort: vielleicht ebenso Zeichen der Leidenschaft, abgetrennt. Als
ließe sich die Welt nur zweifach, ja dreifach verschieden zeigen und
deuten. Als müsse man auf verschiedene Weise, aus unterschiedlichen
Blickwinkeln, auf drei Weisen wahrnehmen: gegenständliche Darstellung,
abstrakte (aber: emotional rezipierte) Farbe und Sprache. Zudem - als
bliebe immer ein Rest, der alles bestimmt - lässt sich das verschieden
Wahrgenommene nicht widerspruchslos zusammensetzen. Das Ganze als Bild
bleibt offen, mehrdeutig, nie gänzlich deutbar, paradox . . . Die
Kombination von gegenständlicher Malerei mit abstrakten Elementen und
Sprache ist typisch für die Arbeit von Conny Kunert.
Als Vorgabe dienen der Künstlerin
Fotografien, ebenso wie gefundene Wörter, Satzfragmente. Letztere
stammen manchmal aus eigenen Gedichten - wie die zwei Zeilen:
"solange es geht / solange ich kann." Die, ebenfalls in Form von
Schreibmaschinentypen, auf einer Arbeit zu lesen sind, welche mit
"alles" ein Diptychon bilden
könnte. |
Als Vorgabe dienen der Künstlerin Fotografien, ebenso wie gefundene
Wörter, Satzfragmente. Letztere stammen manchmal aus eigenen Gedichten -
wie die zwei Zeilen: "solange es geht / solange ich kann." Die, ebenfalls
in Form von Schreibmaschinentypen, auf einer Arbeit zu lesen sind, welche
mit "alles" ein Diptychon bilden könnte. Nur, dass hier außer dem
"gegenständlichen" rechten Teil, der die Köpfe zweier eng nebeneinander
liegender Menschen zeigt, auch auf der roten Seite des Bildes zusätzlich
Figuren zu sehen sind, skizzenhaft: zwei laufende Kinder, Mädchen
wahrscheinlich - das erste Kind lachend und ausgelassen. Vom zweiten, im
Hintergrund, sieht man den Kopf nicht, nur Zöpfe . . . Auch dieses Bild
bleibt geheimnisvoll. Nicht nur, was die Geschlechter der gezeigten
Personen betrifft. Die Frage, in welcher Beziehung sie - und damit rechte
und linke Seite - der Arbeit zueinander stehen . . . und beide zu dem Text
(der auf Ende, Vergänglichkeit weist, zwischen Resignation und Hingabe -
dies aber nur eine Lesart), kann bald zur Frage nach grundlegenden Werten
unseres Daseins werden: Was ist Identität? Liebe? Freundschaft?
Sexualität? Wie weit bestimmen gesellschaftliche Zwänge unser Leben, wie
weit begrenzen (oder steigern) sie unsere Sehnsucht, behindern unser
Glück? "Mich interessieren vor allem Menschen" sagt Conny Kunert, die
ihr erstes Atelier mit 17 Jahren hatte und, wie sie in einer Kurzbiografie
schreibt, "nach zehn jahren komposition und abstraktion" seit 1996 "die
rätselhaftigkeit der person" thematisiert. Man muss hinzufügen: auf
einzigartige, charakteristische Weise. Betrachter können hier eine Art
"Befreiung zum Geheimnis" erfahren - mitten in der entzauberten,
bildüberladenen Gegenwart. Vielleicht gerade, weil die Künstlerin von
populär-ästhetischen Fotografien, oft massenmedial geprägten Klischees
ausgeht, die sie durch Übersetzung in die aufwendige, Kunst, Kanon und
Dauer implizierende Technik Malerei verfremdet und weiters durch
Fragmentieren, Übereinanderlegen und Kombination verschiedener
"Bildausschnitte", abstrakter Flächen und Wörter so verfremdet, dass die
gängigen Kategorien im Widerspruch aufgehoben werden. In einer weiteren
Arbeit aus dem umfangreichen und vielfältigen Werk von Conny R. Kunert
etwa sehen wir eine zerstreute Gruppe Menschen, nach oben schauend, vorm
hellblauen Himmel, wo sich, oben, im Vordergrund (wie ein Vorhang?)
überraschend zwei Tigerköpfe zeigen - plötzliche Epiphanie. So
"abgeschnitten", dass das linke Tier mit beiden, das rechte mit einem Auge
jeden anblickt, der sie betrachtet (Blicke sind Anziehung und Abstoßung in
einem . . .). "Hörst du das Klatschen einer Hand?" lautet ein berühmtes
Koan im Zen-Buddhismus. Die intensive Vorstellung einer paradoxen
Situation sollte das logische Denken außer Kraft setzen und die
Wahrnehmung befreien, für die Erkenntnis einer Wirklichkeit abseits der
Kategorien. Siehst du die Tigerköpfe am Himmel? Das Mädchen im Mann, den
Jungen in der Frau? Die Welt durchs Bild? Mehr über Conny Kunert:
www.r.kunert.net
Erschienen am: 10.10.2003 |
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