Lebensstil des Wartens im Sozialismus
ERNST P. STROBL Wien (SN). Das Jahr hielt alle in Atem. 1989. Ungläubig staunend wurde man Zeuge von historischen Ereignissen. „1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft?“ ist der Titel einer Ausstellung in der Kunsthalle Wien, die nicht einfach als bebilderter Geschichtsunterricht daherkommt, sondern künstlerische Empfindungen, Reflexionen und Anmerkungen an die Tage vereint, wo die Welt neu geordnet wurde. Nicht zu Unrecht gehen die Ausstellungsmacher davon aus, dass man 20 Jahre danach bei der schlechten Bildungslage der Jugend nicht ohne didaktische Aufbereitung auskommt, und der Historiker Oliver Rathkolb hat eine erhellende Bild-Text-Installation aufgestellt. Das burgenländische Loch im Eisernen Vorhang, der Zusammenbruch des Ostblocks, der Fall der Berliner Mauer, alles war plötzlich anders, die Weltpolitik bestimmte Denken, Fühlen und das Leben. „Wir sind das Volk“, und dann die allgemeine Freude im November 1989.
Wie sehen und sahen das die Künstler? Sie kommen aus 20 Nationen, sind diesseits und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ geboren, einzelne erlebten den „Sozialistischen Realismus“ hautnah. Wer noch in Zeiten des Kalten Kriegs die Länder des Ostblocks bereiste, spürte sie allüberall, die lähmende Bürokratie und die Überwachung, immer mit einem Hauch von Gefährlichkeit und Bedrohung. Die beeindruckendste Arbeit empfängt den Besucher, ein Labyrinth aus Gängen, Tischen und Stühlen, eine kafkaeske Verwaltung, die ins Nichts führt oder zumindest zu Klaustrophobie. Emilia und Ilya Kabakov stellen im „Großen Archiv“ die hilflos machende Macht des sowjetischen Verwaltungsapparats wunderbar dar.
Dass zahlreiche der Künstler mittlerweile in Berlin leben, erstaunt nicht. Die Stadt war Brennpunkt der Geschichte, einige der Arbeiten nehmen darauf Bezug, wie etwa Sophie Calle mit Fotos zu Veränderungen nach der Wiedervereinigung, als Hammer und Sichel entfernt und Straßennamen abgeändert wurden. Künstlerisch-politische Reflexionen gibt es darüber hinaus auf andere Ereignisse wie das Massaker auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ des Chinesen Chen Danqing oder ein Video mit realistischen Szenen aus dem Tschetschenienkrieg von Sergi Bugaev Afrika, auch Marina Abramovic verarbeite das Trauma jugoslawischer Bürgerkrieg mit dem Video eines Kinderchors, den sie als „Skelett“ dirigiert. Und nicht zuletzt werden Gewinner und Verlierer der Wendezeit porträtiert, entweder obszön reiche Russen oder auf der anderen Seite die Opfer, die ihr Elend mit Alkohol vergessen wollen.
Oliver Rathkolb verwies auf die Besonderheit des Jahres 1989, dass es „das einzige Jahr im 20. Jahrhundert“ sei, in dem die politischen Entscheidungsträger „jede Kontrolle über die Ereignisse verloren hatten“. Deshalb wirken Bilder von Gorbatschow und Reagan wie nebensächlich, Figuren wie Ceaucescu erbärmlich. Sogar Papst Johannes Paul II., dem eine Heldenrolle zugeschrieben wird, kommt nicht gut weg: Ihn, zumindest seine Goldskulptur, trifft bei Maurizio Cattelan ein Meteorit. Man sollte sich Zeit nehmen für die Schau (bis 7. Februar 2010).www.kunsthallewien.at