Die kritische Humanistin

Von Sabine Oppolzer




Was die Fotografin Lisette Model anzog, waren Menschen mit markanten Physiognomien. Millionäre, Bettler oder Transvestiten fotografierte sie immer in dem Moment, der ihre menschlichen Schwächen offenbarte. Einen besonderen Drive und eine coole Fremdartigkeit erhalten die schwarz-weißen Bilder durch einen Trick, der auf den ersten Blick gar nicht sichtbar ist: Die Bilder hängen schief im Rahmen.

Louis Armstrong (ca. 1954-1956)
Louis Armstrong (ca. 1954-1956)

Nie verwendete Lisette Model das ganze Foto. Immer wählte sie eigenwillige Ausschnitte, sodass oft eine fremde Hand ins Bild ragt oder ein Hut. Der Effekt: Die Bilder wirken wie Standfotos aus Filmen, die auf eine Geschichte davor und danach verweisen.

Interessante Entdeckung

Kuratorin Monika Faber hatte in dem Nachlass der 1983 gestorbenen Künstlerin in der Nationalgalerie in Ottawa einen Aufsehen erregenden Fund gemacht: eine unglaubliche Menge von Negativen, die Lisette Model bei den Jazzfestivals der 50er Jahre angefertigt hatte. Die Künstlerin, die in ihrer Jugend in Wien bei Arnold Schönberg Komposition studiert hatte, war in Amerika vom Jazz restlos begeistert. Die Negative zeigen Größen wie Louis Armstrong, Miles Davis oder Dave Brubeck und werden in der Wiener Ausstellung im Rahmen einer Diashow präsentiert, begleitet von der Originalmusik.

Exil-Biografie

Woman Reading (ca. 1933-1938)
Woman Reading (ca. 1933-1938)
Die Biografie von Lisette Model ist eine Geschichte der Verfolgung und Emigration. 1901 wurde sie in Wien geboren. Als sie vier Jahre alt war, nahm ihr Vater statt des Namens Stern den Namen Seybert an. Nach seinem Tod ging sie mit ihrer Mutter nach Frankreich, wo sie den jüdischen Maler Efsa Model heiratete. In den 30er Jahren zeigte sie eine sehr naive Haltung, was die Politik anbelangte. Aber nicht naiv genug, um nach ihrer Emigration in die USA 1938 nicht doch zu verschweigen, dass sie in Frankreich für die kommunistische Zeitschrift "Le Regard" gearbeitet hatte. Als sie Anfang der 50er Jahre in New York in der "Foto Ligue" ausstellte, machte sie sich jedoch zum verdächtigen Subjekt.

McCarthy-Opfer

Es handelte sich dabei um eine kritische Fotogalerie, die in der McCarthy-Ära eingestellt wurde. Sich im Dunstkreis dieser Galerie zu bewegen reichte aus, um Lisette Model, die immerhin in den 40er Jahren eine Einzelausstellung im Museum of Modern Art hatte, im Jahr 1953 durch das FBI verhören zu lassen.

Der Verdacht "anti-amerikanischer Umtriebe" blieb an ihr haften, auch wenn es nie zu einem Prozess kommen sollte. Die Zeitschrift "Harper's Bazar" traute sich nicht mehr, die Fotografin zu beschäftigen. Damit war ihre erfolgreichste Zeit zu Ende.

Zweiter Bildungsweg

Durch die politische Affäre war der Fotografin die Existenzgrundlage entzogen. Es gelang ihr jedoch durch Freunde, an der Westküste und später in New York einen Lehrauftrag zu erhalten. Seither vermittelte sie ihr künstlerisches Credo an junge Künstler, allen voran die weltbekannte Diane Arbus. "Die Kamera arbeitet schnell und der Fotograf auch. Er hält eine Bewegung und einen Ausdruck fest, die unsichtbar gewesen sind, bevor er sie fixierte. Die Fotografie ist die Kunst des Sekundenbruchteils", so das Credo von Lisette Model.

Kritisch-liebenswürdige Distanz

Schule machten unter anderem ihre Aufnahmen von selbstbewussten Dicken im Badetrikot oder von blasierten Damen auf der Pferderennbahn.

Coney Island Bather (ca. 1939-1941)
Coney Island Bather (ca. 1939-1941)

"Was die Menschen im Laufe eines Lebens machen, ist wirklich nicht so unterschiedlich", stellte Lisette Model fest, "leben, essen, lieben und sterben. Wir erleben alle dieselben Dinge. Wenn wir jemanden betrunken oder hilflos oder krank auf der Straße sehen, dann denken wir: Das kann mir nicht passieren. In Wahrheit kann sich alles im Laufe eines Tages ändern."

Musikalisches Rahmenprogramm

Mit dieser Ausstellung setzt die Kunsthalle Wien ihre Reihe der Präsentation bedeutender exilierter österreichischer Künstler fort. Neben dem Ausstellungsraum hat der Jazzclub Porgy & Bess seine Zelte aufgeschlagen und bringt bis zum Ende der Ausstellung am 15. Oktober ein Jazzprogramm, in dem etliche der Bekannten von Lisette Model zu hören sind.

Link: Kunsthalle Wien

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